Dunkle Gebete
er in die Runde. »Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Ich wüsste nicht mal, wie das Teil aussieht.«
Anderson nickte. Tulloch bedachte Stenning mit einem argwöhnischen Lächeln.
»Nun ja, das stimmt«, bestätigte Kaytes. »Der Betreffende müsste über anatomisches Basiswissen verfügen. Vielleicht jemand, der im medizinischen Bereich tätig war, ohne selbst Arzt zu sein. Möglicherweise sogar ein Metzger, jemand, der es gewöhnt ist, große Tiere auszunehmen.«
Tulloch schloss die Augen, und ich konnte mir ziemlich gut vorstellen, was sie dachte. Genau dieselben Schlussfolgerungen waren damals über den Ripper gezogen worden. Jemand mit groben Anatomiekenntnissen. Eine Zeitlang hatten die zahlreichen Schlachthausarbeiter unter Verdacht gestanden, die in Whitechapel und Spitalfields wohnten.
»Aber um ehrlich zu sein«, fuhr Kaytes fort, »heutzutage kann man so gut wie alles im Internet recherchieren. Ich möchte Sie nicht auf eine aussichtslose Suche nach einem psychotischen Arzt schicken, wenn’s dann am Ende bloß jemand ist, der ein paar Lehrbücher gelesen hat.«
Niemand antwortete ihm.
»Ist da was dran an dem, was ich gehört habe?«, fragte Kaytes. »Haben wir es mit einem Möchtegern-Ripper zu tun?«
Tulloch wollte gerade antworten, als ihr Handy piepste. Sie entschuldigte sich und ging in eine Ecke.
»Was ist das für Musik?«, erkundigte ich mich nach einem Moment des Schweigens.
Kaytes sah mich zum ersten Mal richtig an. »Beethoven«, sagte er. »Eine von den Klaviersonaten. Les Adieux , gespielt von Alfred Brendel.«
»Die Sinfonien hebt er sich für den Detective Superintendent auf«, bemerkte der Assistent mit einem Akzent, der eindeutig von der Themsemündung stammte. »Wenn wir ’ne richtig üble Nummer reinkriegen, legt er die Fünfte auf.«
»Klappt jedes Mal«, bestätigte Kaytes.
Drüben in der Ecke hörten wir Tulloch tief Luft holen. Dann beendete sie das Gespräch, drehte sich um und nickte dem Pathologen zu. »Vielen Dank, Mike«, sagte sie. »Das war sehr hilfreich.« Dann sah sie uns andere an, und ihre Augen leuchteten. »Wir müssen zurück«, verkündete sie. »Der Fingerabdruck, den sie an Emmas Handy gefunden haben. Sie haben einen Treffer.«
Ich fuhr mit Stenning zurück. Eine Weile sagte keiner von uns beiden ein Wort.
»Das kommt mir ziemlich ungeschickt vor«, bemerkte ich. »Einen Fingerabdruck zu hinterlassen.«
»War ja nur ein Teilabdruck«, gab Stenning zu bedenken.
Ich nickte. »Wie kommt die Familie Jones zurecht?«, erkundigte ich mich, weil ich nicht die ganze Fahrt lang obsessiv über mögliche Beweise spekulieren wollte und darüber, zu wem sie wohl führen könnten.
Stenning zuckte die Achseln. »Nicht so toll«, antwortete er. »Der jüngere Sohn ist jetzt zu Hause. Eigentlich hätte er wieder zur Uni gehen sollen, aber das hat er erst mal verschoben. Das Au-pair-Mädchen glaubt, sie stehen immer noch unter Schock. Natürlich wollen sie Antworten. Fangen an, uns Vorwürfe zu machen.«
»Aber wir hoffen immer noch, dass die Familie uns einen Schritt weiterbringt, nicht wahr?«, wollte ich wissen, als die Ampel umsprang und wir weiterfuhren. »Wir versuchen, irgendeine Verbindung zu finden, die zwischen ihr und Kennington bestanden haben könnte.«
»Ja, aber da gibt’s nichts zu holen, Flint. Kein finanzielles Motiv, keine komischen Geschichten. Jeder, der ihr nahestand, hat ein gutes Alibi, der Ehemann hat keine Affäre, soweit wir wissen.«
»Auf dem Beutel, in dem wir den Uterus gefunden haben, war doch nichts«, überlegte ich. »Wenn er vorsichtig genug war, den sauber zu halten, wieso hinterlässt er dann Spuren auf dem Handy?«
»Solche Typen werden eben unvorsichtig«, meinte Stenning. »So kriegen wir sie. Wenn die sich 1888 mit Fingerabdrücken und Forensik ausgekannt hätten, hätten sie den Ripper geschnappt.«
Ich widersprach ihm nicht, aber ganz so sicher war ich mir nicht. Whitechapel war im 19. Jahrhundert dicht bevölkert gewesen. Wachsame Augen waren überall, und zur Zeit der Ripper-Morde war die Polizei auf den Straßen sehr präsent gewesen. Trotzdem hatte der Ripper es geschafft, jedes Mal unentdeckt zuzuschlagen und zu entkommen. Das ließ vermuten, dass er der Polizei immer einen Schritt voraus gewesen war, ganz gleich, welche Mittel und Wege diese zur Verfügung gehabt hätte.
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»Der Fingerabdruck auf Emma Bostons Handy passt mit fünfundachtzigprozentiger Genauigkeit zu einem Mann namens Samuel
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