Dunkle Gebete
Tottenham Court Road. Keine Spur von Cooper an der Adresse, die wir gekriegt haben. Die Leute, mit denen die Kollegen gesprochen haben, glauben anscheinend, dass er schon seit ’ner ganzen Weile auf der Straße lebt.«
»Okay«, sagte Tulloch. »Sagen Sie Tom und George, sie sollen anfangen, sich da umzusehen, wo Obdachlose sich bekanntermaßen oft aufhalten. Die beiden werden Hilfe brauchen, schauen Sie, wer gerade frei ist. Ich möchte, dass sie sofort loslegen.«
Anderson griff wieder nach dem Telefon.
»Das ist Zeitverschwendung«, sagte ich.
Alle drei sahen mich verblüfft an, Anderson mit einer Hand auf dem Hörer.
»Die Leute von der Straße werden nicht mit den beiden reden«, erklärte ich. »Die sind beide gebaut wie Kleiderschränke und ungefähr so subtil wie eine Panzergranate durchs Schaufenster.«
»Ich schicke die beiden ja auch nicht los, um irgendjemanden zu therapieren, Flint«, erwiderte Tulloch. »Sie brauchen doch bloß ein Foto herumzuzeigen und ein paar Fragen zu stellen.«
»Der Erste, den sie sich schnappen, wird behaupten, er hätte Cooper noch nie gesehen«, sagte ich. »Er wird auf den Boden starren, er wird alles tun, damit er sich verdrücken kann. Auf nichts, was er den beiden sagt, werden Sie sich verlassen können, denn er wird den beiden alles Mögliche erzählen, um sie loszuwerden. Und in der Zwischenzeit werden sich alle, die in der Nähe waren, still und leise vom Acker gemacht haben. Diese Leute haben wahnsinnige Angst vor der Polizei.«
»Woher kennen Sie sich denn so gut mit Stadtstreichern aus?«, wollte Joesbury wissen.
»Obdachlose«, verbesserte ich, ohne ihn anzusehen.
»Und was schlagen Sie vor?«, fragte Tulloch.
»Lassen Sie mich mit ihnen reden.«
»Ich glaube wirklich nicht –«, setzte Anderson an.
»Ich kann mehr von denen ausfindig machen, und es besteht eine größere Chance, dass sie mit mir reden.«
»Warum?«, fragte Tulloch. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen wusste sie allerdings bereits Bescheid, glaube ich.
»Ich kenne mich auf der Straße aus«, sagte ich. »Ich habe selbst mal acht Monate da gelebt.«
35
Laut offizieller Schätzung schlafen jede Nacht zwischen tausend und fünfzehnhundert Menschen auf den Straßen von London. Viele davon sind jugendliche Ausreißer, die vor diversen Misshandlungen zu Hause auf der Flucht sind. Manche sind Senioren, Menschen am Ende ihres Lebens, die alles verloren haben. Viele haben psychische Probleme, die dadurch, dass sie die nötigen Medikamente nicht bekommen können, noch verschlimmert werden. Alle sind gefährdet, frieren ständig, haben dauernd Hunger und werden allmählich immer schwächer und verängstigter. Selbst das ist noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, den Tag zu überstehen.
Ich begann meine Suche nach Cooper in den Tunneln rund um die Tottenham Court Road, wo sich die Obdachlosen tagsüber sammeln, um die Leute anzubetteln, die mit der U-Bahn fahren. Die Londoner U-Bahn-Verwaltung vertreibt sie, daher bleibt niemand lange an ein und demselben Fleck. Ich hatte allein kommen wollen und war in dreifacher Ausführung davon in Kenntnis gesetzt worden, dass das völlig ausgeschlossen sei. Ebenso wenig hatte man mir gestattet, in Begleitung von Zivilpolizistinnen loszuziehen.
Am Schluss hatte ich eingewilligt, zwei der jüngsten und kleinsten Detectives mitzunehmen. Beide versuchten jetzt, zwei einander diametral entgegengesetzte Anweisungen zu befolgen: die von Tulloch und den anderen, mich nicht aus den Augen zu lassen, und die von mir, ja Abstand zu halten.
Wann immer ich konnte, suchte ich mir Frauen aus, was nicht immer leicht war, weil etwa siebzig Prozent der Obdachlosen Männer sind. Ich spendierte ihnen etwas Heißes zu trinken und unterhielt mich mit ihnen, nur ein paar Minuten. In der Nähe von St. Martin-in-the-Fields bemerkte ich ein Mädchen, das nicht viel älter aussah als fünfzehn.
»Hallo.« Ich hockte mich hin und hielt ihr einen Pappbecher mit Tomatensuppe hin. »Das ist für dich. Kann ich kurz mit dir sprechen?«
Misstrauisch beäugte das Mädchen die Suppe. »Worüber denn?«, wollte sie wissen.
»Im Gemeindesaal von St. John’s wird heute Nachmittag ab vier Uhr Essen ausgegeben«, sagte ich. »Und im Lamplight Shelter in Soho sind noch ein paar Betten frei.« Bevor ich losgezogen war, hatte ich verschiedene Internetseiten konsultiert. In London gibt es Organisationen, die Obdachlosen eine ganze Menge Hilfe anbieten. Leider haben die meisten
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