Dunkle Gebete
weiter.
Joesbury blickte zu mir auf. Dann erhob er sich. Ich trat einen Schritt zurück und stolperte fast über die Kaminumrandung. O nein. Von allen Männern dieser Welt muss es nicht ausgerechnet dieser sein.
»Bringt es was, wenn ich sage, dass ich ja nicht unbedingt nebenan sein muss?«, fragte er mit kaum hörbarer Stimme. Darüber würde ich nicht einmal nachdenken. Ich schüttelte den Kopf.
Joesbury starrte mich noch einen Moment lang an. Dann sah er auf die Uhr und zog sein Handy hervor. »Dachte ich mir schon«, knurrte er.
Fünfzehn Minuten später saß eine Polizistin auf meinem Sofa, sah bei sehr weit heruntergedrehter Lautstärke fern und trank Kaffee. Ich lag im Bett, noch feucht von der Dusche, und fragte mich, wann ich wohl aufhören würde zu zittern.
33
Sonntag, 9. September
In der pathologischen Abteilung des St. Thomas’ Hospital ertönte leise klassische Klaviermusik. Der Raum war modern, doch irgendetwas an dem Arrangement aus so viel Edelstahl, an den sauber angeordneten Sekretbehältern und Petrischalen, ließ ihn zeitlos erscheinen. Trotz seines grausigen Daseinszwecks strahlte er Ruhe aus. Und in Anbetracht dessen, was wir gleich sehen sollten, kam uns das ganz gelegen.
Der Pathologe, ein Dr. Mike Kaytes, sah uns über den Arbeitstisch in der Mitte hinweg an. »Allzu viel kann ich Ihnen nicht sagen«, meinte er. »Normalerweise kriegen wir ein bisschen mehr zum Bearbeiten.«
Außer Kaytes und seinem Assistenten, einem Jungspund, der nicht viel älter als zwanzig sein konnte, waren vier Polizeibeamte im Raum: Dana Tulloch, Neil Anderson, Pete Stenning und ich. Dies hier war meine erste Autopsie. Stennings auch, hatte er mir auf der Herfahrt gestanden. Anderson und Tulloch hatten das bestimmt schon öfter erlebt, doch sie schienen sich auch nicht wohler zu fühlen. Man brauchte sich nicht zu fragen, wieso. Das kleine Fleischstück, das auf dem blank polierten Stahl lag, sah absolut widerwärtig aus.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich einen Augenblick lang auf die Musik. Eigentlich bin ich kein großer Musikfan, ich käme nie auf die Idee, mir Klassik anzuhören. Doch die zarte Präzision der Töne und die Klarheit des Klanges hatten irgendetwas an sich, das mir half.
Kaytes war ein großer Mann Ende vierzig mit mächtigem Brustkasten. Er hatte dichtes graues Haar und leuchtend blaue Augen. Am Ringfinger seiner linken Hand befand sich unter dem Latexhandschuh ein Pflaster an der Stelle, wo sein Ehering sitzen musste. Er beugte sich vor und stupste gegen die obere Ecke des Gewebebrockens. »Das hier stammt definitiv von einem Menschen«, verkündete er. »Schauen Sie mal, was wir da auf den Eileitern haben.« Er deutete auf dunkelgraue, erbsengroße Teile. »Das sind Clips«, erklärte er. »So weit sind die Schimpansen noch nicht; diese Frau ist sterilisiert worden. Und es handelt sich um ein frisches Präparat«, fuhr er fort.
Der Pianist spielte eine Notenfolge, rein und klar, von langen Pausen unterbrochen.
»Frisch im Sinne von …?«, fragte Anderson.
»Erst vor Kurzem entnommen«, erläuterte der Pathologe. »Wir machen Tests, um zu sehen, ob wir eine von den üblichen Konservierungsflüssigkeiten identifizieren können, wie zum Beispiel Formaldehyd, aber ganz ehrlich, das Zeug kann man unweigerlich riechen. Und hier hat der Verfall gerade erst eingesetzt. Ich würde sagen, das Ding ist keine vierundzwanzig Stunden alt, frisch wie nur was.«
Als die Musik allmählich lauter und schneller wurde, stellte ich mir vor, wie die Finger des Pianisten die Tasten hinauf-und hinuntereilten. Und ich hoffte wirklich, Kaytes würde das Wort »frisch« nicht noch einmal verwenden.
»Können Sie uns irgendetwas über die Frau sagen, der das entfernt wurde?«, erkundigte sich Tulloch.
Kaytes nickte. »Nach der Größe zu schließen, würde ich sagen, sie hat wenigstens eine Schwangerschaft von vierundzwanzig Wochen oder länger hinter sich.« Er trat von dem Tisch weg und bog den Rücken durch. »Bei einer Schwangerschaft vergrößert sich der Uterus, während der Fötus wächst«, fuhr er fort, »schrumpft aber danach nur sehr selten wieder völlig auf seine ursprüngliche Größe; das passiert dann irgendwann nach der Menopause. Diese Frau war also noch nicht alt. Außerdem hat sie ein Kind geboren.«
Er winkte uns näher heran und richtete eine der Lampen neu aus, so dass sie direkt auf das Organ leuchtete.
»Was Sie hier vor sich sehen, ist der Gebärmutterhals«,
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