Dunkle Gewaesser
Draht festgebunden gewesen war, hingen graue Fleischfetzen dran, die mit Fliegen bedeckt waren. Der Mörder hatte die beiden Enden zu einem Knoten gebunden und dann zu einer etwas steifen Schleife. Als hätte er ein Haarband verwendet und nicht etwa Draht.
Ich fragte mich, ob er das vielleicht komisch gefunden hatte. Dabei musste ich dran denken, wie der Mann, den ich für meinen Daddy gehalten hatte, und Constable Sy Higgins May Lynns Füße von dem Draht losgerissen hatten, ohne sich die Mühe zu machen, ihn aufzuknoten. Ich konnte immer noch hören, wie ihre Zehenknochen nachgaben. Die nasse Haut war ihr von den Füßen gerutscht wie klebriger Brotteig und am Draht hängen geblieben.
Ich scheuchte die Fliegen weg, und während ich das tat, regte sich etwas in mir, und mir wurde ganz anders; etwas, das sich wieein wildes Tier anfühlte, suchte einen Platz, an dem es sich niederlassen konnte. Ich ging weiter.
Ich ging weiter, bis sich die Bäume und Büsche lichteten. Ein feuchter Lehmpfad führte einen mit Gras bewachsenen Hügel rauf. Als ich oben ankam, war da ein weiterer Lehmweg, der zu einem weiteren Hügelkamm hinüberführte, und auf dem anderen Hügel stand ein kleines weißes Haus, das so frisch aussah wie ein neugeborenes Kalb. Daneben war ein kleiner grüner Garten mit einem Zaun drum, um die Rehe und so fernzuhalten, und ein Stück dahinter stand ein kleines rotes Klohäuschen. Es sah so fröhlich und einladend aus, dass ich am liebsten raufgegangen wäre und es benutzt hätte, obwohl ich gar nicht musste.
Der rote Lehm, der vom nächtlichen Regen noch ganz nass war, klebte mir an den Schuhen und machte mir die Füße schwer. Ich verließ den Pfad, zog die Schuhe aus und wischte die Sohlen am Gras ab, bis sie sauber waren. Nachdem ich sie wieder angezogen hatte, hielt ich mich auf dem Gras und stieg den Hügel rauf. Oben war der Hügel flach, und da wuchs auch kein Gras. Der Boden war gerecht worden, und in der Erde steckten Kieselsteine, die Jinx’ Daddy ausgestreut hatte. Vor dem Haus befand sich eine hufeisenförmige Auffahrt, in der aber kein Wagen stand. Den hatte Jinx’ Daddy nach Norden mitgenommen.
Das Haus war klein, vielleicht zwei Zimmer, aber im Unterschied zu unserem großen Haus war es in gutem Zustand, und das Dach sah so aus, als wäre es vor Kurzem neu gedeckt worden. Die Schindeln waren aus gutem Holz gefertigt, perfekt gespalten, gelegt und festgenagelt. Eine Teerschicht sorgte dafür, dass sie nicht faulten. Ich wusste, dass Jinx’ Daddy das gemacht hatte, bevor er wieder nach Norden gefahren war. Er sorgte stets dafür, dass alles erneuert wurde und dicht war.
Im Vorgarten gackerten ein paar Hühner, aber ansonsten gab es kein Vieh. Jinx’ Daddy schickte ihnen immer Geld, und im Unterschiedzu den meisten anderen hier unten am Fluss kauften sie alles Fleisch, das sie aßen, außer den Hühnern hin und wieder oder etwas Fisch. Die Hühner hielten sie vor allem wegen der Eier, und da sie an keinem festen Platz nisteten, musste man aufpassen, wo sie die Eier legten, sonst musste man sich, wenn man ein Ei zum Frühstück wollte, auf eine Schatzsuche begeben, bevor man es in die Pfanne hauen konnte. Das wusste ich nur zu gut, denn bei uns daheim war das nicht anders.
Ich war fast an der Tür, als Jinx aus dem Haus kam, einen Korb mit Wäsche auf den Armen. Die Haare hatte sie ausnahmsweise mal nicht zu Zöpfen geknotet, sondern am Hinterkopf wie einen Distelbusch hochgesteckt und mit einer weißen Kordel festgebunden. Sie trug ein blaues Arbeitshemd, eine Latzhose und Schuhe, die aussahen, als würde noch ein zweites Paar Füße reinpassen.
Sie begrüßte mich, und ich folgte ihr hinters Haus zur Wäscheleine, die zwischen zwei hohen Pfosten gespannt war. In dem Korb waren auch Wäscheklammern, und ich half ihr. Dabei gaben wir uns Mühe, alles ordentlich aufzuhängen, und während wir uns die Leine entlangbewegten, unterhielten wir uns.
»Ich möchte nach Hollywood gehen, wie wir besprochen haben«, sagte ich.
»Das wollte ich auch«, erwiderte sie. »Aber dann musste ich an Mama denken, die dann mit meinem kleinen Bruder hier allein wär. Seit ich daheim bin und nicht mehr unten am Fluss, gefällt es mir hier wieder ganz gut.«
»Mir nicht. Ich hab nur ein großes Haus, das jeden Moment zusammenbricht, eine betrunkene Mutter und einen Blödmann, von dem ich dachte, er wär mein Daddy, und den ich mir mit einem Holzscheit vom Leib halten muss. Also denk ich mal, dass ich
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