Dunkle Gewaesser
den Schatten eines Baumes. Dort sank ich wieder zu Boden und rührte mich nicht mehr. Ich wusste, ich hätte mich um Mama, den Reverend und meine Freunde kümmern sollen, aber ich hatte das Gefühl, als wären keine Knochen mehr in meinen Beinen und als hätte mir jemand Matsch in den Kopf gestopft. Ich konnte nicht denken, und ich konnte mich nicht bewegen.
Wahrscheinlich lag ich ziemlich lange so da, denn der Tag zog sich dahin, die Sonne wurde heiß, und ich verlor das Bewusstsein. Irgendwann öffnete ich die Augen und stellte fest, dass ich ohnmächtig gewesen war. Geweckt hatten mich ein paar Eichhörnchen, die im Geäst über mir schwatzten wie ein paar alte Schachteln über den Zaun hinweg. Es gelang mir, mich aufzusetzen und mich umzuschauen. Vor hier aus konnte ich den Fluss sehen, aber Mama und die anderen waren nirgendwo zu entdecken.
Ich brauchte ungefähr so lang, wie ein Kind braucht, um laufen zu lernen, bis ich wieder auf den Füßen war und runter zum Ufer stolperte. Die ganze Zeit über hatte ich große Angst vor dem, was mich dort erwartete. Und dazu hatte ich auch guten Grund, denn was mich dort erwartete, ließ mir das Herz in die Hosen rutschen.
Es war der Reverend.
Hinter dem Wasserfall und den Felsen ließ die Strömung nach, und wo der Fluss nach rechts abbog, strömte das Wasser durch einen schmalen Spalt im Gestein; und genau dort hing der Reverend fest. Wie ein Schwein, das versucht hatte, in ein Fass zu kriechen. Von dem Floß war ein großes Stück abgebrochen und steckte ihm jetzt im Bauch. Ich kraxelte die Böschung entlang, kletterteüber ein paar kleinere Felsen und schwamm zu ihm rüber, was viel leichter war als vorhin, denn seit es nicht mehr regnete, war der Fluss nicht mehr so aufgewühlt. Und es gab eine Menge Felsen, auf die ich klettern konnte, um zum Reverend zu kommen.
Als ich ihn erreichte, legte ich mich direkt über ihm auf dem obersten Felsen auf den Bauch und rief seinen Namen.
Es dauerte lange, bis er antwortete. »Jetzt werde ich endlich heimgerufen«, sagte er.
»Hört sich so an, als wären Sie noch da«, erwiderte ich, um ihn ein wenig aufzumuntern, aber das war eine dumme Idee. Das abgesplitterte Brett ragte ihm hinten aus dem Rücken raus, und Blut lief in kleinen Tropfen den hölzernen Sporn runter. Wahrscheinlich war das alles, was ihn noch zusammenhielt.
Ich kroch auf den Felsen herum, bis es mir gelang, auf einen runterzukommen, der tiefer war und von wo ich das Gesicht des Reverend sehen konnte. Es war kein schöner Anblick. Seine Haut war weiß, seine Lippen dunkel, und Blut sprudelte ihm aus der Nase. Er öffnete die Augen, ganz offensichtlich zu schwach, um den Kopf zu heben, und sagte: »Du bist ein Engel.«
Da wurde mir klar, dass es ihm wirklich dreckig ging. »Nein, ich bin’s, Sue Ellen.«
»Jetzt weiß ich, dass mir vergeben wurde, sonst wärst du nicht hier.«
Erst wollte ich ihm widersprechen und ihm noch mal sagen, wer ich war, aber dann sah ich ein, dass das keinen Sinn hatte – sollte er doch denken, dass ich ihm die Tür zum Himmel aufhielt.
Seine Augen schlossen sich. Seine Brust, die sich gehoben und gesenkt hatte, hörte auf sich zu bewegen. Er schien schwerer zu werden. Das große Stück Holz, das in ihm steckte, rutschte weiter nach unten, bis seine Füße im Wasser hingen. Dann regte er sich nicht mehr, hing nur noch da wie ein Stück Obst.
Ich tat das nicht gern, aber ich ließ ihn, wo er war. Mir fehltedie Kraft, ihn da rauszuzerren, schon gar nicht zusammen mit dem großen Stück Holz. Sonst konnte ich nichts für ihn tun. Ich wollte nach Mama und meinen Freunden suchen, obwohl ich Angst davor hatte, was ich finden würde. Ich kletterte wieder auf den Felsen und ließ den Blick über den Fluss schweifen. Am Ufer entdeckte ich einen Ast, der über den Fluss rausragte. Vor Kurzem war er noch unter Wasser gewesen, aber jetzt war das Wasser wieder niedriger und er war im Trockenen. Irgendwas hing an ihm dran.
Ich schwamm zurück ans Ufer und lief zu dem Baum rüber. Mein Herz hämmerte mir in der Brust, und ich schnappte verzweifelt nach Luft. Schließlich sah ich, was an dem Ast hing: einer der Beutel, die Terry und ich vom Schuppen des Reverend mitgenommen hatten. Ich kletterte ganz vorsichtig rauf und holte den Beutel. Das war ziemlich anstrengend, aber ich schaffte es. Wieder am Ufer knotete ich die Schleife auf, mit der der Beutel zugebunden war, und obwohl er nass war, ließ er sich leicht öffnen. Ich schaute rein.
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