Dunkle Häfen - Band 1
ohne Moral. Sie sind Gesindel, das sonst in der Welt keinen Platz hat. Piraten neigen zu sinnloser Grausamkeit", sagte Bess zu ihnen, als sie in die Stadt gingen. "Man muss sie nur ordentlich einschüchtern. Wenn das nicht gelingt, fisch' dir den Anführer raus. Nimm ihn dir einzeln vor, da ist er gleich weniger vorlaut. Lass sie niemals als Menge, als Mob, handeln. Das macht zu allem fähig. Du musst lernen, jeden einzeln anzusprechen und ihm so die Stärke zu nehmen. Diese Leute sind nur in der Menge stark."
Ramis pries einmal mehr den Zufall, der sie wenigstens zu Bess gebracht hatte. Kein anderer Pirat hätte sie so fürsorglich behandelt. Ihr war es zu verdanken, dass sich die Piraten nicht an den Gefangenen vergriffen, wie es auf anderen Schiffen üblich war. Ramis bewunderte sie immer mehr, auch wenn sie ihre Ratschläge seltsam fand. Schweigend trottete sie hinter Bess her. Umso mehr sie von Nassau sah, umso weniger mochte sie es. Die Menschen hier besaßen wirklich keinen Anstand. Ein Mann urinierte schamlos an eine Zeltwand und mehrere Betrunkene lagen hingestreckt am Boden, selbst im größten Schmutzhaufen. Bess betrat eine der befestigten Hütten, die sich als Kneipe erwies. Überwältigender Gestank nach billigem Rum schlug über ihnen zusammen, als sie den dämmrigen Raum betraten. Es war ohrenbetäubend laut.
Wie im Fiebertraum wurde Ramis an einen vergangenen Tag erinnert, eine Erinnerung, die sie am liebsten vergessen hätte. Das Fest in Kensington Palace... Eine behandschuhte Hand hatte sie grob aus dem vollen Schankraum eine Treppe hinauf gestoßen... Aber das war vorbei, er war tot!
An den zusammengezimmerten Tischen saßen nun Piraten und mehrere Frauen. Sie brüllten und würfelten und waren ganz ausgelassen. Bess steuerte zielstrebig auf einen Tisch zu, Ramis und Edward notgedrungen hinterher. Am Tisch saß schon eine Gruppe von Männern, die ihnen entgegensahen. Bess gesellte sich ganz selbstverständlich zu ihnen. Man schien sich zu kennen und sich auch schon begrüßt zu haben. Vor den Männern standen große Holzkrüge mit Rum. Dennoch wirkte die Runde eher wie eine Beratungssitzung denn eine Gruppe feiernder Piraten, wie sie an den anderen Tischen hockten. Edward und Ramis ließen sich auf einer wackligen Bank nieder. Die Männer hielten sich nicht viel länger mit ihnen auf, sondern setzten ein Gespräch fort, das sie offensichtlich gerade unterbrochen hatten.
"Es sieht nicht nur so aus, als würde es wieder Krieg geben. Es wird Krieg geben!", brummte einer verärgert, ein bärtiger Geselle mit buschigen Augenbrauen.
Ramis hörte mit halbem Ohr zu. Sie versuchte, den Alkoholgeruch zu vergessen. Er machte sie krank. Er machte die Menschen unberechenbar. Deswegen hatte sie ihr Baby verloren, würde es niemals in den Armen halten. Ihre Augen brannten und sie unterdrückte aufsteigende Tränen. Die Piraten diskutierten unterdessen weiter, vor allem über die Auswirkungen, die ein Krieg auf die Piraterie haben würde.
"Unsere Lage ist ohnehin denkbar schlecht!" , tat Bess dazu kund. "Das wäre unser Ende! Seht doch, was ist die Piraterie denn noch in dieser Welt? Und wenn nun Unmengen von Kriegsschiffen über den Ozean fahren, was machen wir dann? Es wird keine unbewachten Handelsschiffe mehr geben!"
Die Runde bestand offenbar aus lauter Kapitänen, wie Ramis klar wurde. Sie versuchten, eine Lösung für ihre Zukunft zu finden. Ihre Zukunft! Krieg..., dachte Ramis. Er würde sie direkt betreffen, es ging auch um ihre Existenz. Und er würde Tausende das Leben kosten, ein sinnloses Blutvergießen. Dabei ging es nur um einen Thron, den Thron von Spanien. Sollte das einen Krieg rechtfertigen? Sie wusste, wie sehr Engländer und Franzosen sich hassten, selbst die staatenlosen Piraten gaben sich fast patriotisch, stammten sie doch mehrheitlich aus England. Alle waren der Meinung, nur ein Krieg könne die Lösung sein, um die Franzosen endgültig auf ihren Platz zu verweisen. In diesem Konflikt ging es darum, dass der spanische König ohne direkten Nachkommen gestorben war und nun machten sowohl die Habsburger als auch die Bourbonen Ansprüche darauf geltend. Frankreich stand mit seinen Forderungen ziemlich alleine, es schien, als würden sich die anderen Mächte mit den Habsburgern verbünden.
Ramis fiel es schwer, sich auf das Gesagte zu konzentrieren, dauernd schweifte sie ab. Sie wäre am liebsten an die frische Luft gegangen, aber das wagte sie nicht. Draußen lungerte einiges Gesindel
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