Dunkle Häfen - Band 1
deshalb quittierte sie es mit Gleichgültigkeit und entfernte die Insekten. In den Hängematten, in denen die Matrosen des Platzmangels wegen schliefen, gab es immerhin weniger Ungeziefer als in Strohmatratzen und Betten. Ramis legte sich in die heftig schwankende Matte und wickelte sich in ihre Decke. Während sie auf Edward wartete, dachte sie nach. Sie fragte sich, wo die unglückselige Ramis jetzt schon wieder gelandet war. Ihr Leben bestand daraus, dass sie von einem Fettnäpfchen ins andere trat. Und egal, ob sie etwas unternahm oder nicht, es endete jedes Mal in einem Desaster. Die Welt, in der sie gerade versuchte, Halt zu finden, zerbrach wie ein Haus aus Glas. Sie hatte bisher immer überlebt, war über die Trümmer hinweg gestiegen, die Schnitte gingen ins Herz, ließen die Seele bluten. Es wäre besser gewesen, sie wäre vor langer Zeit gestorben, noch bevor sie nach Maple House gekommen war. Eigentlich hätte sie tot sein müssen. Aber dazu hatte sie nie den Mut gehabt und das brachte weiter Unglück über alle, die um sie waren, sie, die Unglücksbringerin. Nun trug sie auch noch die Verantwortung für Edward, sollte ihn vor dem Unglück bewahren... Edward! Er war immer noch nicht da, schoss es ihr durch den Kopf. Wer wusste, was er schon wieder anstellte! Mit einem Satz war sie aus ihrer Hängematte und stürzte nach oben, barfuß und in ihrem Hemd, wie sie war. Kalte Hände griffen nach ihrem Herzen, als sie den Jungen an Deck nirgends entdecken konnte. Es war gar niemand da, nicht einmal eine Wache.
"Edward!" , rief sie sorgenvoll.
Nur das Rauschen des Meeres antwortete ihr. Plötzlich überkam sie die Angst, alle Menschen könnten verschwunden sein wie ein Traum, aus dem man erwachte. So, als wäre alles nur ein Traum gewesen. Einen Augenblick stand sie wie erstarrt, dann rannte sie wild über Deck und suchte. Ein Splitter bohrte sich in ihren Fuß. Hoffentlich entzündete er sich nicht, dachte sie noch. Gleich darauf hörte sie ein Geräusch. Es kam von einem Fass, das einsam an Deck stand und das erst seit kurzem hier sein musste. Daneben saß Edward, seine Augen blitzten verräterisch in der Dunkelheit. Ramis brauchte nicht sehr lange, um zu begreifen, was Edward da machte. Schwerer war für sie, es zu akzeptieren. Der Fassdeckel war offen und sie roch, dass Rum darin war. Und Edward hatte sich vor ihr versteckt...
"Edward, hör sofort auf!" , rief sie fassungslos aus. Entsetzen und das Gefühl, verraten worden zu sein, überwältigten sie. "Dein Vater...", begann sie, schlug sich aber sofort die Hand vor den Mund, als ihr klar wurde, was sie gesagt hatte.
Doch Edward hatte sie verstanden. Der Rum war gleich vergessen.
"Mein Vater! Du kennst ihn also doch! Willst du mir auch nichts sagen, genau wie meine Mutter?"
Er machte ihr Vorwürfe.
Ramis jammerte nur. Plötzlich entdeckte sie Ähnlichkeiten zwischen Vater und Sohn, die sie nie hatte wahrhaben wollen. Es waren nicht nur die schwarzen Haare, nein auch die stechenden Augen, die so voller Berechnung waren. Edwards hochaufgeschossener Körper würde einst der eines Mannes sein, dessen Stärke dazu verwandt wurde, Gewalt auf andere auszuüben.
"Nein!" , heulte sie. "Bitte nicht!"
Sie stürmte los und verschwand unter Deck.
Edward wusste nicht so recht, was los war. Ihr Ausbruch verwirrte ihn mal wieder. Er wusste nicht, ob er etwas falsch gemacht hatte. Aber war es so unrecht, nach seinem Vater zu fragen? Lettice hatte nie von ihm erzählt, kein Wunder, sicher war er irgendein namenloser Trottel. Doch auch Ramis schien ihn zu kennen...und der Gedanke an ihn schien sie aufzuwühlen. Es verletzte ihn, dass sie ihm nichts sagte. Außerdem konnte er nicht verstehen, warum sie sich wegen des Rums so aufregte. Er hatte ja nur ein paar Schlucke genommen, nur so zum Probieren. Im Goldenen Drachen hatten sich die Frauen einen Spaß daraus gemacht, ihn damit zu tränken, bis er betrunken war. Aber was sollte daran schlimm sein? Es war ein warmes Gefühl, abgesehen von dem Kopfweh am nächsten Morgen. Jetzt war er allerdings neugierig geworden, Ramis sollte ihm endlich die Wahrheit über seinen Vater sagen. Sie sollte keine Geheimnisse vor ihm haben. Die junge Frau war nicht in ihrer Kajüte. Auf ihrer Suche nach Trost hatte sie sich in Bess gemütliche Kajüte verzogen. Sie konnte ihr karges, enges Zimmer jetzt nicht mehr ertragen. Edward fand sie auf dem Bett liegend vor, ihre Fäuste in das Kissen gekrallt. Edward trat neben sie und schüttelte
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