Dunkle Häfen - Band 1
Sommer kam die Grippe nach Maple House. Sie wütete derzeit in ganz London und traf vor allem die Reihen der Armen und Schwachen. In den feuchten Armenvierteln lebten die Menschen so dicht aufeinander, dass sich Seuchen rasend schnell ausbreiteten. Die Menschen starben wie die Fliegen, doch vorerst kümmerte das niemand en. Erst als die aggressive Grippewelle auch nicht mehr vor den Häusern der Wohlhabenden Halt machte, erregte die sie großes Aufsehen.
In Maple House waren inzwischen auch einige in der Dienerschaft erkrankt. Sogar Lady Harriet musste mit hohem Fieber das Bett hüten. Und die Zahl der Kranken vergrößerte sich ständig. So mussten die Gesunden, die immer weniger wurden, sich um die Kranken kümmern. Ramis war bisher vom Fieber verschont geblieben und hatte nun alle Hände voll zu tun. In diesem Zimmer eine Stirn kühlen, hier das Bett aufschütteln und dort etwas Hühnerbrühe einflößen. Es artete zu einer Tortur aus, aber Ramis war froh, überhaupt etwas tun zu können. Denn manchmal stand sie einfach hilflos vor einem der Betten und musste mit ansehen, wie der Schwerkranke dahin siechte. Am schlimmsten war es, wenn sie jemanden leblos vorfanden und ihn dann aus dem Haus trugen.
Nach der Meinung der Köchin - die nahezu unverwüstlich schien und natürlich nicht krank war - seien die Zustände bald wie im Jahre 1665, zur Zeit der großen Pest in London. In solchem Ausmaß war die Epidemie nun doch nicht, denn der Schrecken und das Massensterben von damals konnte kaum noch übertroffen werden. Die Köchin erinnerte sich noch mit Schaudern daran. In manchen Teilen Londons war es dennoch wirklich schlimm, vor allem natürlich in den stets überfüllten Armenvierteln.
Über Maple House lag schwer die Atmosphäre von Krankheit, Tod und Leiden. Es war - abgesehen von dem Stöhnen und Wimmern der Kranken - in den Korridoren totenstill und jeder huschte lautlos wie eine Maus dahin, als fürchte er die Aufmerksamkeit der Grippe auf sich zu ziehen. Die Stille hatte etwas Erdrückendes und Fiebriges an sich, füllte das ganze Haus aus, was umso auffälliger wurde, da hier sonst Lärm und Stimmen zu hören waren. Martha hatte nicht so viel Glück gehabt wie Ramis, sie war eine der Allerkränksten. Ramis nahm den Kampf um ihr Leben auf und verbrachte möglichst viel Zeit bei ihr. Die meisten der Kranken würden nach ein paar schlimmen Tagen wieder genesen, doch ein paar würden nie mehr aufstehen. Martha gehörte dazu, behaupteten alle. Das Mädchen saß an ihrem Bett und wusch ihr die fieberheiße Stirn oder öffnete kurz das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Trotzdem war es immer drückend schwül hier im Raum und Ramis schwitzte schon nach kurzer Zeit. Aber sie konnte sich nicht nur Martha widmen, Lady Harriet sollte natürlich vorzugsweise behandelt werden, auch wenn Ramis sich meistens verdrückte, wenn es darum ging. Martha war ihr viel wichtiger. Die Lady stellte eine äußerst schwierige Patientin dar, sie war nicht so krank, dass sie sich nicht ständig hätte beklagen können oder ihre Pfleger unentwegt herum scheuchen würde. Außer diesen Problemen musste Ramis noch für Marthas Schwester Emily sorgen. Jedes Mal, wenn sie zur ihr ging, wusch Ramis sich sorgfältig, um die Krankheit nicht zu ihr zu schleppen. Emily war gesundheitlich sehr schwach. Eine Grippe würde den sicheren Tod für sie bedeuten.
Ramis trug nun zum ersten Mal die Last der Verantwortung auf ihren Schultern und sie wog sehr schwer. Ramis hatte das Gefühl, von diesem Gewicht erdrückt zu werden. Sie dachte kaum daran, dass auch sie erkranken könnte. Die Vorstellung wäre zu entsetzlich gewesen. Wer sollte sich dann um Martha und Emily kümmern? Oft verspürte sie den Drang, in den Garten zu rennen und tief die frische Luft einzuatmen, um den Gestank des Erbrochenen, das sie den ganzen Tag aufwischte, nicht mehr zu riechen. Ihr war fast immer übel. Seufzend atmete sie ein, als sie einmal die Gelegenheit hatte, nach draußen zu gehen. Nun fühlte sie sich schon wieder besser. Im Haus war es dämmrig und das Licht jetzt ungewohnt grell. Aber auch hier im Freien war es heiß und stickig. Sie saß unter einem ausladenden Ahornbaum und ruhte sich kurz etwas aus. Ihr Rücken schmerzte. Ramis betrachtete die schönen Rosen und den gepflegten Rasen um sich herum. Eine tiefe Ruhe ergriff Besitz von ihr, bis sie daran denken musste, dass der Gärtner, der dies alles geschaffen hatte, am vorigen Morgen gestorben war. Er war
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