Dunkle Häfen - Band 1
Langsam schritt sie die hohen, breiten Stufen der ehrwürdigen Treppe hinunter. Hier war sie öfters heimlich hoch und runter spaziert und hatte so getan, als gehöre ihr das Haus. Natürlich musste sie dabei aufpassen, dass niemand sie erwischte. Es wurde nicht gern gesehen, wenn die Diener auf dem Außenportal herumlungerten. Unten an der Straße stand schon die prächtige Kutsche mit dem Familienwappen. Ein Lakai erwartete Ramis bereits und öffnete die Kutschentür. Dann half er ihr geschickt hinein. Sie fuhr leicht zusammen, als sie Sir Edward darin entdeckte. Seine Augen weiteten sich flüchtig, als er sie erblickte.
„ Du siehst hinreißend aus, Semi. Wirklich hinreißend.“
Sie ließ sich möglichst weit entfernt ihm gegenüber auf dem roten Polster nieder. Die Kutsche rollte an. Ramis hatte ein scheußliches, flaues Gefühl im Magen. Es herrschte ein tiefes Schweigen, aber Ramis spürte, dass er sie beobachtete. Sein Blick hing an ihr. Unbehaglich starrte sie aus dem Fenster, dessen Vorhänge sie aufgezogen hatte. Die Straßen waren jetzt viel leerer als sonst, ob nun wegen der Grippegefahr oder nur durch die späte Stunde bedingt. Ramis fiel ein kleines, schmutziges Mädchen auf, das zusammengekauert in einer Ecke saß und bettelte. Der Gedanke an Lettice drängte sich ihr auf. Ob sie überhaupt noch lebte? Vielleicht musste sie auch betteln. Zorn, der dem herzlosen Verhalten von Sir Edward galt, stieg in ihr auf. Zweifellos hatte er Lettice schon längst verges sen. Sie bedeutete ihm nichts.
Sie sind dort alle so herzlos, mein Liebling. Sie denken nur an sich und lieben nur die Macht. Und sie zerstören alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Aber hier bist du sicher. Die Worte kamen ihr plötzlich ungebeten in den Sinn und sie glaubte, dass sie von jenseits des Nebels stammten, der ihre Vergangenheit umhüllte. Es war eine weibliche Stimme gewesen. Ihre Mutter?
Als sie brüsk den Kopf in Sir Edwards Richtung wandte, war er erstaunt über das Misstrauen und den Groll in ihren Augen. Aber er musste sich wohl getäuscht haben, dachte er dann, während sie wieder aus dem Fenster sah. Die kleine, schüchterne Semi würde nicht auf die Idee kommen, sich zu widersetzen. Sie war aber wirklich hübsch, ein junges Mädchen, das allmählich in das Alter kam, in dem sie zur Frau wurde. Bisher hatte er keine Zeit gehabt, sich um das Fräulein in den Kleidern seiner Tochter zu kümmern. Und all das gehörte nur ihm ganz allein! Aber vielleicht bald... Er seufzte zufrieden.
Ramis merkte, dass sie schwitze und ihr die Unterröcke und das Mieder am Körper klebten. Ob es Angstschweiß war, oder die Hitze in der Kutsche, wusste sie nicht. Oder wurde sie letztendlich doch krank? Vielleicht waren das die ersten Symptome. Sie hoffte sehnlichst, diese Kutschfahrt würde endlich zu Ende gehen, doch es schien noch eine Ewigkeit zu dauern, bis si e Kensington Palace erreichten. Sir Edward ließ auch noch einen Umweg fahren, um jemanden zu besuchen. Während er weg war, musste Ramis in der Kutsche warten, was sie noch unruhiger machte. Wie sie bei Botengängen festgestellt hatte, befanden sich im West-End die meisten Häuser der Reichen, weil sich dort die Paläste mit ihren prächtigen Parks und die Regierungszentren konzentrierten.
Als Sir Edward nach etwa einer halben Stunde wieder zurückkehrte, ging es weiter und bald rollten sie die Ei nfahrt zum kleinen Schloss hinunter, welches das Königspaar der alten Königsresidenz Whitehall Palace vorzog. Wegen der schlechten Gesundheit des Königs hatten sie das freistehende Landhaus gekauft und ausgebaut, hatte Martha ihr erzählt. Die Luft war dort besser.
Es gab viele Grünflächen und große Gartenanlagen im Umfeld des Schlosses, zwischen denen Kensington Palace mit seinem schlichten Backsteinbau fast familiär wirkte. Die Hufe der beiden Schimmel klapperten laut auf dem gepflasterten, dunklen Hof. Nun regte sich etwas und einige Stallknechte kamen ihnen entgegen, um sie in Empfang zu nehmen. Die Kutsche wurde samt Pferden fortgebracht. Sir Edward bot ihr galant den Arm und mechanisch wie eine Marionette tat sie, was man von ihr erwartete. Die Lakaien musterten Ramis neugierig und ziemlich frech, während sie sie durch den Palast führten. Einer der Säle der erst kürzlich restaurierten Königsresidenz war kunstvoll mit Eichenholz getäfelt und überall schmückten große Gemälde die Treppenaufgänge und Räume. Das Mädchen fühlte sich angesichts dieses
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