Dunkle Häfen - Band 1
musste ein eingeladener Mann eigentlich unbedingt eine Begleiterin mitnehmen? Dass er sogar ein Dienstmädchen dazu zwang?
Gegen Mittag des Tages sank ihr jedoch einfach der Kopf herunter, als sie bei Martha wachte, und sie schlief ein. Sie kippte zur Seite und fiel auf den Boden, wo sie einfach weiterschlief. Erst am späten Nachmittag schrak sie wieder hoch. Sofort machte sie sich Vorwürfe, weil sie nicht aufgepasst hatte. Aber bei der Kranken war keine besondere Veränderung eingetreten, weder zum Schlechteren, noch zum Besseren. Bald wurde es Zeit, zu Miss Grey, der Ankleidefrau von Lady Harriet, zu gehen. Das verursachte ein komisches Gefühl bei Ramis. Im Dienstbotenbereich sah man Miss Grey selten, denn sie hielt sich für etwas Besseres und war meist bei Ihrer Ladyschaft.
Sie wirkte gar nicht erfreut, als Ramis eintrat. Man konnte ihr das Sträuben dagegen ansehen, ein kleines Dienstmädchen herzurichten. Lady Harriet würde sehr böse werden, wenn sie das erfuhr. Sir Edward war das natürlich egal. Widerstrebend brachte die Ankleidefrau einige alte Kleider von Sir Edwards und Lady Harriets Tochter, die schon verheiratet und außer Hause war. Die Kleider waren inzwischen ein wenig altmodisch geworden, aber immerhin passten sie. Miss Grey machte sich daran, diese Makel mit raffinierten Tricks zu überdecken, was ihr erstaunlich gut gelang. Der Stoff fühlte sich kühl und ungewohnt auf der Haut an. Miss Grey verzichtete auf ein Korsett, sondern legte ihr ein Mieder an, weil Ramis ohnehin noch eine mädchenhafte Figur hatte. Trotzdem schnürte es sie merklich ab. Sie roch die ganze Zeit den Hauch der Körpercreme, mit der man sie eingerieben hatte, bevor man sie mit Parfüm betupfte. Anschließend schob die Ankleidefrau sie zu einem Stuhl und drapierte ihre Haare zurecht, steckte ein Teil auf dem Kopf fest, um den Rest zu großen, weichen Locken zu drehen, die ihr auf die Schultern fielen. Das nahm eine sehr lange Zeit in Anspruch und Ramis langweilte sich, so dass sie unruhig wurde. Als Miss Grey mit dem Pudern begann, konnte sie kaum noch stillhalten. Doch es folgte auch noch das Schminken der Augen. Aber auch diese Tortur fand irgendwann ein Ende. Abschließend wurde das Mädchen kritisch gemustert. Ein paar Kleinigkeiten mussten berichtigt werden, das verlan gte die Berufsehre. Dann wurde Ramis zum Spiegel geführt.
Ramis betrachtete sich und kam sich wie eine Fremde vor. Sie fand kaum noch Gem einsamkeiten mit dem kleinen, zerrzausten Dienstmädchen, dessen Haare einfach im Nacken zusammengeknotet waren. Aus dem Spiegel sah ihr eine blasse, sehr junge Dame entgegen. Das kann nicht ich sein, dachte sie. So sehe ich nicht aus!
„ Na komm endlich!“ , murrte Miss Grey ungeduldig von der Tür aus und riss Ramis aus ihren Betrachtungen. „Du musst gehen!“
Ramis folgte ihr und sie durchquerten die üblichen tausend Gänge und Zimmer, um hinauszugelangen. Das Kleid um Ramis raschelte geheimnisvoll. Steife Röcke bauschten sich gewaltig von ihrer Hüfte ab. Sie musste ihre Schritte mäßigen, um in den schmalen, engen Schuhen nicht zu stolpern. Noch immer spürte sie die krankhafte Stille im Haus wie ein Druck auf sich lasten. Sie kam sich plötzlich in ihren eleganten Kleidern wie ein Eindringling vor. Ihre Gedanken kehrten zu Martha zurück. Sie wagte gar nicht an die grauenhafte Vorstellung zu denken, dass Martha sterben könnte, wie es für alle anderen schon feststand. Ein Leben ohne sie konnte sie sich nicht vorstellen. Das wäre kein Leben mehr. Ramis glaubte, sie würde einfach kraftlos wie eine Puppe in sich zusammensacken, wenn Martha ihr nicht mehr den Rückhalt und die Stärke gab, die sie zum Atmen brauchte. Sie war der einzige Mensch, der sie liebte und dem sie vertraute. Bonny war ja kein Mensch, aber Ramis fühlte sich mit ihr verbunden, als sei die Katze ein Teil von ihr. Sie verstanden sich auch ohne Worte, kannten immer die Gedanken des anderen. Außer Martha hatte sie niemandem davon erzählt, man würde sie nur für völlig verrückt halten. Aber sie sprach ohnehin mit keinem im Haus außer der Näherin und dem Tier. Heute Abend blieb Bonny bei Martha und das beruhigte Ramis schon etwas. Martha würde nicht allein sein.
Draußen war es sehr kühl geworden und sie fröstelte in dem recht luftigen Kleid, als sie aus der fieberheißen Hitze des Hauses in den dämmrigen Abend hinausging. Ihr war leicht schummrig wegen ihrer Müdigkeit und alles fand wie in einem Traum statt.
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