Dunkle Häfen - Band 1
unerreichbar. Auch aus Ramis Stimme klang eine Qual, die Fanny nicht lindern konnte. Sie hatte etwas Schreckliches getan, etwas nicht Wiedergutzumachendes.
"Was bin ich für eine Närrin!" , klagte Ramis sich weiter an. Dann schwieg sie eine Weile. "Ich bin verloren..."
Plötzlich stand sie vor Fanny und krallte ihre Finger in deren Arm.
"Hörst du, wie er lacht?" , hauchte sie. "Nein, er ist doch tot... Das ist der Wahnsinn! Sag, du unschuldiges Kind, bin ich verloren?"
"Nein Herrin, du bist nur vorübergehend verwirrt und verzweifelt."
Ramis stützte sich schwer auf ihre Schulter.
"Es stimmt nicht. Ob er nun tot ist oder nicht, er hat über mich triumphiert. Ich bin geworden wie er..."
Fanny musste sie stützen, als Ramis kraftlos gegen sie sank. Sie schleppte sie zum Bett und legte sie darauf wie ein Kind. Sie zog ihr das lange Hemd an, das Ramis zum Schlafen benützte. Seltsam, ihre Rollen schienen auf einmal vertauscht. Ramis Hände waren eiskalt und Fanny deckte sie zu.
"Fanny, ich weiß nicht, ob du bleiben sollst oder nicht. Ich möchte dich bei mir haben, ich fürchte mich, allein mit mir und den Geistern zu sein. Aber du musst gehen."
Fanny ließ sie nur ungern allein. In ihrem Zustand war Ramis zu vielem fähig. Als sie besorgt die Tür öffnete, rollte sich Ramis wie ein Embryo im Mutterbauch zusammen.
"Töte ihn!" , kam es sehr deutlich aus den Decken.
"Was?!" Fanny glaubte trotzdem, sich verhört zu haben.
"Nein!" , widersprach sich Ramis auch schon wieder selbst. "Ich darf nicht noch mehr anrichten. Setz ihn in ein Beiboot und gib ihm Proviant mit. Lass ihn frei, Fanny. Er soll selbst entscheiden, was er tun will. Geh jetzt, bevor die Männer aufwachen."
"Den Lord?" Fanny hatte es schon gespürt. Sie wusste, Ramis versuchte, ein bisschen wieder gutzumachen, ihr Seelenheil zu retten. Sie verließ den Raum.
Das Gewicht schien Ramis Seele zu erdrücken. Das war die schwerwiegendste Schuld, die sie je auf sich geladen hatte. Es war eine sinnlos grausame Tat gewesen und das war am Schlimmsten. Sinnlos. Grausam. Sie war zu dem geworden, was sie an Sir Edward so verabscheut hatte. Seine Saat war in ihr aufgegangen. Vergiftet, wuchernd. Und diese Schuld würde niemals von ihr weichen, in den Augen jedes Menschen war sie zu einem Scheusal geworden. Es gab keine Sühne, niemals war das zu verzeihen.
"Du h attest recht", sprach sie bitter in das leere Zimmer hinein. "Ja, Madame, du hattest recht. Ich bin verflucht. Verflucht vom Tage meiner Geburt an bis zu meinem Tod. Das Unglück ist um mich, weil ich böse bin. Man hatte mich gewarnt. Aber vor sich selbst kann man nicht fliehen. Die Strafe wird fürchterlich sein."
Ramis stand wie eine alte Frau vom Bett auf und nahm ihr Messer. Dann schnitt sie sich jedes ihrer langen Haarbüschel einzeln ab.
Ängstlich dachte Fanny an die ihr bevorstehende Aufgabe. Sie fürchtete sich vor Männern. Aus den noch an Deck herumstehenden Nahrungskisten holte sie ausreichend Proviant für - ja, für wie viele Tage? Sie wusste es nicht. Auf der Prise gab es ein kleines Einmannboot, noch immer an der Reling hängend, als sänke das Schiff jeden Augenblick, bereit, ins Wasser gelassen zu werden. Dieses richtete Fanny nun her. Die Piraten lagen inzwischen gefällt am Boden und rührten sich nicht. Noch war es dunkel, doch der Horizont im Osten wurde bereits heller. Fanny verstaute alles im Boot und machte sich dann schweren Schrittes auf zur Kajüte, wo der Kapitän lag. Keiner hatte an eine Wache für die Gefangenen gedacht. Sie entriegelte die Tür. Drinnen war es dunkel, das Licht musste ausgegangen sein. Es roch durchdringend im Raum, eine ähnliche Mischung von Gerüchen wie die an Ramis. Sie drückte fest die Pistole in ihrer Hand und leuchtete. Auch wenn sie sich gewappnet hatte, machte ihr der Anblick eines nackten Mannes dennoch furchtbare Angst. Ihr Puls raste, als sie sich näherte. Er sah ihr ein wenig verwirrt entgegen, wirkte noch so jung. Den Kopf halb abgewandt, zückte sie ein kleines Messer.
"Verhaltet Euch ruhig ", warnte sie. "Ihr werdet bald frei sein."
Ein bitteres Schnauben. Sie durchtrennte die Stricke an den Händen, die Waffe starr auf ihn gerichtet. Weil sie kaum hinsehen konnte und ihre Hände so zitterten, schnitt sie ihn einmal. Der Schnitt blutete.
Als er frei wa r, meinte sie: "Kleidet Euch an!"
Sie warf ihm einige seiner Kleidungsstücke zu, die sie aus der Kapitänskajüte geholt hatte. Auch einen alten Hut, der in ihrer
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