Dunkle Häfen - Band 1
nach dem Kampf auf die Prise zurückgekehrt war, hatte sie gestaunt, wie jung er war, nicht älter als sie. Wie er so an den Mast gefesselt dastand, hatte er im ersten Moment fast unschuldig gewirkt. Doch das musste eine Täuschung gewesen sein.
Er war ein Adliger. Reichverziertes Justeaucorps mit großen Manschettenaufschlägen. Edle Schuhe. Ein aristokratisches Gesicht mit hochmütigen Augen, selbst jetzt. Ein schöner Mann. Vom ersten Augenblick an mochte sie ihn nicht. Sie hatten ihm den Degen weggenommen, mit dem er laut den Aussagen ihrer Männer meisterhaft umzugehen verstand. Ohne ihn und seine Perücke, die einer der Piraten auf seinem Säbel trug, wirkte das Bild seltsam falsch. Seine Haare, die sonst sicherlich nie zum Vorschein kamen, waren dunkel und ziemlich kurz. Ramis entsann sich, dass viele Adlige nur Stoppeln unter ihren Perücken hatten, weil sie keine eigenen Haare brauchten. Ramis blickte ihm in die Augen und schrak fast zusammen, so unerwartet war ihre Farbe. Sie glich dem blauen Nachthimmel. Die Überraschung darin, die sie beinahe verletzlich wirken ließ, verschwand rasch wieder.
Ramis hörte kaum zu, was die anderen sagten. Sie redeten über ein Lösegeld, ja. Etwas sickerte durch ihr Rückgrat und von ihrem verletzten Arm gingen Hitzewellen aus, die durch ihre Venen pochten. Edward konnte mal wieder seinen Mund nicht halten. Daraufhin sagte der Adlige etwas, das Ramis aufhorchen ließ. 'Hure' hatte er sie genannt. Sie erinnerte sich vor allem an ihre Wut und an den Geruch, der von ihm ausging, dieses durchdringende Parfüm.
Als man die Gefangenen endlich fortgeschafft hatte, tauchte ein weiteres Problem auf. Wegen der Schäden auf beiden Schiffen waren einige der Gefängnisse unbrauchbar geworden und es war zu wenig Platz für alle. Sie mussten höchst kompliziert auf verschiedene Räume verteilt werden. Ramis drohte der Kragen zu platzen. Heute war alles verhext. Den Kapitän schafften sie in ein Einzelzimmer, er sollte von seinen Männern getrennt werden, um Ärger zu vermeiden.
Sobald das alles geregelt war, ließ Ramis die Männer feiern. Wie die Geier stürzten sie sich auf all das Essen und den Rum. Sie schleppten es an Deck, wo sie ein gewaltiges Gelage begannen. Ramis wollte nicht daran teilnehmen. Sie hatte nicht einmal richtigen Hunger, dennoch aß sie ein bisschen. Und trotz der Kräuter, die ihr Pedro, der Arzt, zum Kauen gegeben hatte, weil sie den Schmerz stillen sollten, spürte sie ihn noch. Sie hätte nicht gedacht, dass so eine kleine Wunde so schmerzen konnte. Das Gemisch war ihr jedoch zu Kopf gestiegen. Sie fühlte sich wie im Fieber, ihr Körper glühte. In ihr tobte ein heißes Feuer, die Flammen versengten sie. Sie konnte weder Edward noch Fanny irgendwo entdecken. Haltlos wanderte sie über das Deck der Prise. Sie wollte in ihre Kajüte, doch dazu hätte sie mitten durch die Feiernden gehen müssen. Hier drüben war es wenigstens still. Ramis beschloss, mit dem jungen Kapitän über die Lösegeldforderung zu sprechen. Irgendwann würde sie es ohnehin tun müssen und sie wollte es hinter sich bringen. Als sie sich unter Deck bemühte, schwankte sie plötzlich, als ein Schwindel sie überfiel. Beinahe hätte sie die Sturmlaterne, die sie mit sich trug, fallen gelassen.
Ramis klopfte erst an die Tür, hinter der der Lord gefangen war, auch wenn das keinen besonderen Sinn hatte. Es war eben eine Angewohnheit. Ramis trat ein, obwohl keine Antwort kam. Sie leuchtete mit ihrer Laterne. Ihre Männer hatten den Raum gründlich durchsucht und ausgeräumt. Den Adligen hatten die Piraten auf einem provisorischen Bett abgelegt, an Armen und Beinen gefesselt. Ramis fragte sich, warum jeder den Kapitän besser behandelte als den einfachen Matrosen, selbst der Feind. Die anderen Engländer waren in einem Raum zusammengepfercht. Vielleicht war aber auch die Einsamkeit schlimmer, die Sorgen, die man niemandem anvertrauen konnte. Er hob blinzelnd den Kopf, als sie näher trat.
"Wer ist da?" Hinter dem Licht konnte er sie nicht erkennen.
Ramis blieb eine Weile stehen, ohne sich zu erkennen zu geben. Dann begann sie, die Lampen im Raum anzuzünden, bis alles von einem matten Licht erleuchtet war.
"Ach, Ihr ", stellte er missmutig fest und behielt sie im Auge.
Ramis hatte das unangebrachte Gefühl, dass er auf jemand en gewartet hatte. Das war natürlich recht unwahrscheinlich. Oder wartete jeder Gefangene trotz allem auf Rettung?
"Ihr heißt Fayford, Sohn des Lord Fayford,
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