Dunkle Häfen - Band 1
geworden!"
Jetzt wurde Ramis wütend, kaum dass sie sich vom Schrecken erholt hatte.
"Edward, kannst du nicht besser auf diesen Lümmel aufpassen? Oh, ich weiß, du hast es ihm beigebracht!"
"Aber Mutter!" , protestierte der knapp zehnjährige William. "Ich kann mich schließlich festhalten! Was kann mir denn schon dabei passieren. Ed hat es auch schon oft gemacht!"
"Das weiß ich nur zu gut und ich habe es ihm auch schon oft verboten! Was dabei passieren kann? Du kannst vom Schiff überfahren werden, zum Beispiel!"
"Aber Tante!" , warf Edward ein, im Versuch, zu beschwichtigen.
Mit seinen neunzehn Jahren war er beileibe kein Kind mehr. Hochgewachsen und mit rabenschwarzem Haar, das im Nacken zusammengebunden war, wirkte er nun auch äußerlich wie die Verkörperung eines Piraten. Unter dem stoppeligen Kinn und der sonnengebräunten Haut konnte man seinen Vater kaum noch erkennen, nein, inzwischen sah Ramis auch Lettice in ihm, es gab vieles an ihm, das ihr ähnelte.
"Ich war ja dabei ", fuhr er fort. "Ich kann ihn gut halten."
"Ach ja, gerade noch so! Du bist kaum weniger tollkühn als der Junge! Ich will dich daran erinnern, dass du vor einer Weile fast das Schiff in die Luft gejagt hättest!"
Diese Sache hätte fast tödlich für sie alle geendet, denn Edward hatte das Schießpulver untersucht, das ein Sturm durchnässt hatte und das unbrauchbar geworden zu sein schien. Um zu testen, ob es noch funktionierte, hatte er es einfach angezündet. Ramis fragte sich immer noch, was er sich eigentlich dabei gedacht hatte. Welcher Mensch, dessen Geist nicht der Verwirrung anheimgefallen war, tat so etwas Unnötiges ? In keinem Fall hätte er es wiederverwenden können. Und entgegen Edwards Annahme hatte das Schießpulver doch noch funktioniert, zwar nicht so gut, sonst wären einige von ihnen nicht mehr am Leben, aber es reichte, um ein Loch in die Wand zu reißen. Edward konnte rechtzeitig in Deckung gehen und kam mit einem Ruß geschwärztem Gesicht davon, doch die Reparaturen dauerten eine ganze Weile. Diese Unvorsichtigkeit wäre schon ein Grund gewesen, ihn zu lynchen, aber er war ja der Sohn vom Käpt'n, so maulte die Mannschaft und so kam er mit der Strafe davon, alles wieder aufzuräumen und fast allein zu reparieren. Ramis musste natürlich zugeben, dass sie ihn auf keinen Fall verurteilt hätte. Sie wusste auch nicht, wie sie reagiert hätte, wenn ein anderer das Schiff gefährdet hätte. Das war ein beinahe unmöglicher Balanceakt zwischen der Verantwortung als Kapitän und der Zuneigung zu ihren Freunden. Letzteres war ihr wichtiger, aber es war ein Fehler in ihrer Position. Und Edward hatte nicht einmal aus dem Geschehen gelernt. Er ging weiter seine verrückten Wetten mit der Mannschaft ein, bei denen es für ihn um mehr als um Geld ging und die ihn und seine Mitwetter oft in Lebensgefahr brachten. Dennoch genoss er inzwischen großen Respekt bei der Mannschaft und William machte ihm eifrig alles nach. Es war zum Verzweifeln, fand Ramis, doch gutes Zureden schien hier nutzlos.
"In deinem Alter solltest du wissen, was du tust! Aber pass auf deinen Bruder auf und bring ihn nicht in Gefahr!"
"Mach dir keine Sorgen, Ramis. Ich lebe auch noch."
Was konnte sie einem Kind, das erwachsen geworden war, darauf erwidern? Er überragte sie bald um Haupteslänge. Plötzlich war Ramis ganze Wut verraucht und sie war einfach nur noch traurig.
Ein paar Stunden später liefen sie in Kingston, der Hauptstadt von Jamaika, ein. In den letzten Jahren waren die Piraten gerade so über die Runden gekommen, die kleinen Überfälle reichten zum Leben und sie mussten selten hungern. Jetzt, im Frühjahr 1713 , schien der Krieg auf einmal zu Ende sein, seit März verhandelte man in Utrecht über die Friedensbedingungen. Ihr Kaperbrief war am Auslaufen und wieder musste Ramis überlegen, was sie danach tun sollten. Im Moment konnten sie jedoch noch ungestraft in englische Häfen einlaufen und das taten sie auch. Wie üblich war es Ramis ein Dorn im Auge, dass die Piraten ihr meist recht spärliches Geld in die Bordelle der Stadt trugen, anstatt es sinnvoller zu verwenden. Doch nichts schien die Männer davon abzuhalten zu können, mochte ihr Kapitän es ihnen auch noch so verübeln. Das sei eines der wenigen Vergnügen, das sie haben konnten, in einer unheimlich harten Arbeitswelt, so war ihre Argumentation. Insgeheim fürchtete Ramis, dass Edward inzwischen auch diesem Laster frönte. Seit er bei den anderen Männern im
Weitere Kostenlose Bücher