Dunkle Häfen - Band 1
All diese Namen scheinen viele verschiedene Menschen zu beschreiben, doch ich nenne mich Ramis. Dieser Name ist alles, was mich zusammenhält, er ist ich und ich bin er. Aber seine vollständige Form - Semiramis - wurde mir ohne Liebe gegeben, es ist nicht der Name, auf den ich getauft wurde, falls es je einen gab. Aber irgendjemand hängte mir ein Amulett um, ich musste ihm zumindest so viel bedeutet haben, dass er es tat. Ist Ramis denn nur ein Trugbild? Nein, das kann nicht sein, denn diese Ramis hat ihre eigene Vergangenheit. Mit diesem Beweis beruhige ich mich immer, wenn die Leere hochkommen will.
Dieses Mal gingen wir in Plymouth an Land. Wie immer waren alle erschöpft von der langen Seereise. Wir hatten ein bisschen Ware zu verkaufen, die sich in den Kolonien nicht gut absetzen ließ und ein wertloses Stück Land irgendwo in der Wildnis westlich der amerikanischen Ostküste, das einer der Männer beim Glücksspiel gewonnen hatte. Wie gesagt, es war recht wertlos, aber es gab Papiere und war sehr groß. Der neue Eigentümer wollte kein Bauer werden, sondern Pirat bleiben - denn das waren wir trotz Kaperbrief immer noch - und hatte es sogar der Gemeinschaftskasse zur Verfügung gestellt. Unsere Gemeinschaftskasse ist etwas ganz Besonderes: Anstatt den vollen Anteil an jeder Beute ausbezahlt zu bekommen, gibt jeder etwas in die Kasse, um damit den Proviant und die anderen Kosten, die auf einem Schiff so anfallen, zu decken. Es ist nicht leicht für einen Pirat, seine Geldgier unterzuordnen und sein Vermögen in Gemeinschaftseigentum zu stecken. Aber ohne das hätten wir schon längst versagt, da bin ich mir sicher. Wie hätten wir auch den Proviant bezahlen sollen? Die Männer kommen dabei noch gut weg, denn auch ich muss alles hergeben, damit wir nicht verhungern, dabei steht dem Kapitän immer der größte Beuteanteil zu. Das alles macht uns zu einer verschworenen Gemeinschaft und keiner meiner Männer verfällt der Idee, auf einem anderen Schiff anzuheuern.
Auf jeden Fall hofften wir hier in Plymouth jemanden zu finden, der sich da drüben nicht auskannte und das Land für einen Glücksgriff hielt. Über die Häuserdächer hinweg entdeckte ich die Spitze eines Kirchturmes und plötzlich überkam mich das Bedürfnis, wieder einmal in eine Kirche zu gehen und zu beten. Das Verkaufen der Ware konnte ich auch meinem Quartermeister überlassen und Fanny würde ohne weiteres für William sorgen. Blieb da noch Edward, aber ich konnte ja nicht die ganze Zeit über ihn wachen. Er würde schon wissen, was gut für ihn war.
In der Kirche war es dunkel. Der Geruch, der in allen Kirchen irgendwie gleich ist, stieg mir in die Nase. Durch die gotischen Fensterbögen strömte dämmriges Licht herein. Es war ganz still, offensichtlich war ich die einzige Besucherin. Meine Schritte hallten, als ich das Kirchenschiff durchquerte, um mich in eine der vorderen Reihen zu setzen. Um mich herum waren eine zeitlose Stille und etwas, das mir Ehrfurcht einflößte. Ich fühlte mein rastloses Selbst allmählich zur Ruhe kommen. Mir wurde bewusst, dass ich es vermisst hatte, in einer Kirche zu sein. Martha hatte mich nur selten mitgenommen, dennoch mochte ich die Innenräume der Gotteshäuser, es war ein so vertrautes Gefühl. Martha... Ich hatte lange nicht mehr an sie gedacht, fiel mir erschrocken ein. Nein, ich hatte unsere Nähe nicht halten können.
Ich muss nach London, alles wieder gutmachen.
Schon der Gedanke war aberwitzig, wie hätte ich auch in die Höhle des Löwen gehen können? Ständig hätte mich jemand erkennen können, da ich mich seit meiner Flucht nicht so sehr verändert hatte, dass man mich nicht mehr mit der jungen Frau von damals in Verbindung bringen könnte. Außerdem hatte ich Angst davor... Gerade wegen dieser Angst hätte ich gehen sollen. Bonny musste inzwischen tot sein, Emily auch, wenn ich realistisch war und vielleicht sogar Martha. Und ich war nie zurückgekommen, obwohl es möglich gewesen wäre. Wer sonst als die Tochter sollte sich um eine einsame Mutter kümmern, wenn diese alt geworden war? In diesem Augenblick, als ich mir diese Frage stellte, krallte sich etwas wie eine Klaue in meine Haare. Ich schnappte entsetzt nach Luft und sprang halb auf. Mit einem schmerzhaften Ruck riss ein Büschel meiner Haare und blieb in den Händen des Angreifers zurück. Oder besser gesagt in denen der Angreiferin, denn es war eine Frau. Mit einem Aufschrei wich ich vor der dürren Gestalt zurück, die soeben
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