Dunkle Häfen - Band 1
Raum schlief, hatte er viel mehr Kontakt zu der Mannschaft. Ihn einfach danach zu fragen, das hätte Ramis nie gewagt. Über dergleichen konnte sie nicht sprechen, mit niemandem. Leider war es unmöglich geworden, Edward so wie früher überall mit sich herumzuschleppen. Ramis wollte ihn nicht selbstständig werden lassen, so unvernünftig das auch war. Sie hatte Angst, er könne sich von ihr abkapseln. Schon jetzt hatte sich ihre Beziehung kaum merklich verändert. Ihre mütterlichen Berührungen und Zärtlichkeiten, früher so selbstverständlich, ja nötig für beide, schienen ihm unangenehm geworden zu sein. Er entzog sich ihr. Ramis konnte sich seine Unruhe nicht erklären und es gab niemanden, der ihr sagen konnte, ob das ganz normal war oder ob sie etwas unternehmen sollte.
Da Edward heute zusammen mit William die geschäftlichen Dinge tätigen wollte, beschlossen Ramis und Fanny, sich in der Stadt umzusehen. Ramis war schon öfters in Kingston gewesen, hatte aber selten die Zeit für einen Stadtbummel gehabt. Die Leute drehten sich nach den beiden Frauen um, die in ihren Hosen und mit ihren Waffen gewiss sehr ungewöhnlich und für die meisten auch anstößig aussahen. Es gehörte sich nicht für eine Frau, Hosen zu tragen. Das ausrangierte Wams, die Stiefel und der große Hut ließen Ramis noch exzentrischer wirken. Zusammen mit der rothaarigen Frau, deren Kraushaar sich rebellisch gegen den Knoten, den sie im Nacken trug, wehrte, gab sie ein Bild ab, das man nicht so schnell vergaß. Manche Frauen tuschelten über ihr nachlässiges Aussehen und ihre sonnengebräunte Haut und fühlten sich in ihrem Urteil über die Verwerflichkeit solcher Frauen bestätigt. Dennoch konnten die Blicke Ramis guter Stimmung heute keinen Abbruch tun. Es war einfach ein zu großer Luxus, gemütlich durch die Straßen zu schlendern.
In den Außenbezirken der Stadt war es menschenleer, über die heißen Mittagsstunden hielt man sich im Schatten auf, wenn es möglich war. Doch die stickige Stille wurde bald von Lärm zerrissen. Eine Frau stürzte um die Ecke, ein paar Meter vor den Piratinnen. Sie hatte ihre Röcke gerafft, um schneller laufen zu können. Als sie nach vorne blickte, gewahrte sie die beiden. Ihr Gesicht war verzerrt. Stolpernd kam sie auf sie zu. Ramis zuckte zurück und zog ihren Säbel, die Frau schien böse Absichten zu haben. Ein paar Sekunden später bemerkte sie jedoch die zwei Männer, die ebenfalls um die Ecke gekommen waren und offensichtlich die Frau verfolgt hatten. Diese erreichte nun Ramis und versteckte sich hinter ihr.
"Halt!" , brüllte Ramis die Männer an, die unvermittelt schnell auf sie zu rannten.
Sie hielt ihren Säbel vor sich, während Fanny ihre Pistole zog. Die Angreifer bremsten sofort ab und gingen fluchend in Deckung. Anscheinend waren sie unbewaffnet, denn man hörte nichts mehr von ihnen. Als sicher war, dass sie sich verzogen hatten, drehte Ramis sich zu der Frau herum.
"Danke ", keuchte diese, noch immer außer Atem.
Ramis musste unerwartet schaudern. Die Frau hatte grüne Augen wie eine Katze. Überhaupt sah sie sehr unheimlich aus, sehr fremd. Langes schwarzes Haar, in das ein paar Perlenschnüre geflochten waren, umwehte ihr dunkles Gesicht. Und wenn sie auch arm aussah mit ihren geflickten Kleidern, die sehr bunt waren und ihrem ungekämmten Haar, so war sie doch atemberaubend schön. Sie hatte etwas ungeheuer Fesselndes an sich - und etwas Gefährliches, auch wenn das Ramis völlig unbegründet schien. Vielleicht lag es an ihrer Fremdheit und dem, was Ramis über fahrendes Volk gehört hatte.
"Weshalb haben sich dich verfolgt?" , fragte Ramis nach einer Weile des Schweigens, in der man sich gemustert hatte.
Die Frau lachte leise, mit einer erschreckend rauen Stimme.
"Das übliche. Sie glaubten, mit einer Zigeunerin, die allein herumläuft, könne man sich alles erlauben."
Hätte Ramis es nicht mit eigenen Augen gesehen, sie hätte nicht geglaubt, dass jemand es gewagt hätte, diese Frau anzugreifen. Sie sah aus, als könnte sie sich sehr gut wehren. Soeben strich sie sich eine Strähne hinters Ohr und ließ ihren durchdringenden Blick auf Ramis ruhen.
"Ich heiße Talamara ", erklärte sie so langsam, als bereite es ihr Mühe.
"Ich bin Anne und das ist meine Freundin Fanny."
"Die Piratin?"
"Ich bin Mitglied der Kaperflotte, keine Piratin. Aber wie habt Ihr von mir gehört?"
"Durch einen reinen Zufall, Kapitän. Auch von Euch spricht man in der großen Welt."
Ramis
Weitere Kostenlose Bücher