Dunkle Häfen - Band 1
neugierig musterte, nichts anfangen. Älter als fünfundzwanzig konnte er auf keinen Fall sein, eher Richtung zwanzig. Das allein wäre ja nicht weiter auffällig gewesen, aber er trug dazu noch so komische Kleidung, dass man daran unwillkürlich hängen blieb. Entfernt erinnerte sie an die Mode der englischen Adligen, war jedoch noch berüschter und bunter, als am englischen Hofe 'comme il faut' war. Als er merkte, dass Ramis ihn inzwischen ebenso eingehend musterte wie er sie, trat er näher und zog höflich den Hut, auf dem ein paar weiche Federn schwankten. Er sagte etwas, aber Ramis verstand es nicht und sie war zu müde, um sich Gedanken darüber zu machen, woher ihr der Klang der Sprache bekannt vorkam.
"Versteht Ihr Englisch?"
Jetzt erkannte Ramis den Akzent. Eine Zeit lang hatte es auf der Fate einen Franzosen gegeben und daher erinnerte Ramis sich. Noch vor einem Jahr wäre der junge Mann hier ihr Feind gewesen. Ramis gab mit einem leichten Nicken zu verstehen, dass sie verstanden hatte.
"So seid Ihr Engländerin?"
Ramis zögerte ungebührlich lang e, bevor sie antwortete. Sollte er doch annehmen, sie stände noch unter Schock, aber eigentlich wusste sie einfach nicht, was sie ihm erzählen sollte.
"Ja ", meinte sie schließlich lahm. "Ich bin Engländerin."
Was sollte sie denn auch anderes sagen? Der junge Franzose verbeugte sich nun wieder.
"Je suis le Marquis d'Agny. Marquis von Agny. Und wie lautet Ihr Name, Madame?"
"Anne."
"Verzeiht meine Neugier, aber nichts weiter?"
"Nein, einfach Anne. Ich habe meine Namen verloren."
"Dürfte ich fragen, warum? Wenn ich unhöflich bin und Euch - wie sagt man? - vor den Kopf stoße? Ja, dann sagt es mir. Ich wundere mich nur, warum Ihr auf dem Meer treibt."
"Entschuldigt mich, ... Marquis de Agny", der französische Name ging ihr sehr schwer über die Lippen und er hörte sich aus ihrem Mund furchtbar an. "Aber ich bin sehr müde. Die letzte Zeit hat meine Kräfte überstiegen."
Es war die übliche Ausrede, um Zeit zu gewinnen, aber sie wirkte immer wieder. Verständnisvoll nickte er und entfernte sich mit einer kleinen Verbeugung. Die nächsten Stunden ließ man Ramis tatsächlich in Ruhe und sie ersann sich eine Geschichte, wie sie hierhergekommen war. Es war eine richtig gute Geschichte, fand Ramis, tragisch und auch einigermaßen glaubwürdig, eben weil sie so merkwürdig war.
Demnach war sie einst die Tochter eines reichen englischen Adligen gewesen, die sich unglücklicherweise in einen Katholiken verliebt hatte. Ihre Eltern, streng protestantisch, verbaten die Hochzeit mit diesem 'Papisten' und drohten, die Tochter zu enterben, wenn sie sich darüber hinwegsetzte. Doch die konnte nicht anders, als ihm zu folgen und nahm nach der Heirat seinen Glauben an. Nun war sie bettelarm, dafür allerdings glücklich. Es hielt nicht lange, denn ihr Mann war in jakobitische Intrigen, die von Schottland ausgingen, verstrickt gewesen und es ging sogar soweit, dass man ihn des Hochverrats anklagte und suchen ließ. Sie beide waren lange auf der Flucht, aber letztendlich fanden sie ihn und richteten ihn hin. Seine Frau war zum Zeitpunkt seiner Festnahme nicht anwesend und konnte entkommen. Doch wohin sollte sie dann gehen? Zu ihren Eltern zurück konnte sie nicht, ansonsten war sie mittellos und allein. So verkaufte sie ihren letzten Schmuck und finanzierte damit die Überfahrt nach Frankreich, wo sie sich Hilfe von den französischen Verwandten ihres Mannes erhoffte.
"Ic h habe ja sonst niemanden mehr", schloss sie niedergeschlagen, als sie ihm ihre erdachte Lebensgeschichte erzählt und berichtet hatte, wie ein Sturm ihr Schiff überkommen hatte.
Der Franzose sah sie mitleidig an. Oh ja, er hatte Verständnis für diese vom Schicksal gebeutelte Dame! Diese schrecklichen Engländer. Die Abneigung gegen die Menschen von der Insel saß immer noch sehr tief. Die Wut, den Krieg verloren zu haben, lag noch schwer in seinem Bauch. Natürlich musste er der edlen Dame helfen, die nur wegen ihres Mannes und ihres Glaubens verfolgt wurde!
"Ihr werdet sicher nach Frankreich gelangen, Madame, das versichere ich Euch! Dann werden wir weiter sehen und nach Euren Verwandten suchen."
Der neue Lord Fayford legte einige Tage später als Ramis in Jamaika ab. Er hatte in den Kolonien nun alles geregelt, jetzt musste er schleunigst zurück. Die Nachricht, dass sein Vater gestorben war, hatte ihn erreicht, als Ramis Gefangene in seinem Haus gewesen war. Daraufhin wollte er
Weitere Kostenlose Bücher