Dunkle Häfen - Band 1
Martha umfasste die Hand ihres Zöglings.
"Nun komm schon, Ramis. Du kannst mir alles erzählen, das weißt du doch. Ich würde dich nie verurteilen."
"Es ist grässlich ", murmelte Ramis. "Weißt du ... ich ... ich..." Sie stockte und konnte nicht weitersprechen.
"Es war Sir Edward!" , würgte sie dann hervor, als wäre es Gift.
Martha verstand sofort. Sie konnte nicht behaupten, es nicht bereits geahnt zu haben.
"Mein armes kleines Mädchen. Komm, leg deinen Kopf hierher."
Ramis verbarg ihr Gesicht in der Bettdecke und ließ sich über das Haar streichen. Auf einmal löste sich der dicke Knoten in ihrem Hals auf. Die tagelange Einsamkeit und das Erlebnis, über das sie mit niemand em reden konnte, mit dem sie ganz alleine fertig werden musste, überwältigten sie. Endlich konnte sie weinen. Die Tränen durchnässten die Bettdecke, während ihre Schultern geschüttelt wurden, bis sie nicht mehr konnte. Sie fühlte sich ausgebrannt. Nach einer Weile hob sie ihren Kopf mit den verquollenen Augen und den leuchtend roten Flecken auf den Wangen.
"Liebes, das W einen steht dir nicht besonders", seufzte Martha. "Dein Gesicht sieht ziemlich schaurig aus."
Ramis rang sich Martha zuliebe ein schwaches Lächeln ab.
"Genauso wie meins immer!" , fügte Martha gespielt aufmunternd hinzu. "Als ich ein Kind war, hat mich mein Vater mal wegen irgendeiner Dummheit von mir ausgeschimpft. Höchst verletzt rannte ich heulend aus dem Haus. Ich muss furchtbar ausgesehen haben, verzaust und knallrot. Unterwegs traf ich einen kleinen Jungen, der mich erst fassungslos anglotzte. Dann wirbelte er herum und rannte davon. Er schrie: "Mami, Mami! Eine Hexe!" Ich war tödlich beleidigt und heulte nur noch mehr."
Martha lächelte bei der Erinnerung. Sie war erleichtert, dass Ramis im Augenblick halbwegs getröstet zu sein schien. Dennoch wusste Martha, dass sie das Unglück damit nicht ungeschehen machen konnte und sie hatte schreckliche Schuldgefühle. Sie sah, dass Ramis einen schweren Rückschlag erlitten hatte, der vielleicht nicht mehr wieder gutzumachen war. Ihr Mädchen wirkte so durchscheinend, als weilte sie schon halb nicht mehr in dieser Welt. Aber Martha wollte alles tun, um sie vor weiterem Schaden zu schützen.
"Wir müssen etwas tun, Ramis ", sagte sie. "Das kann so nicht weitergehen. Ich werde dich bei meiner Schwester verstecken, da wärst du sicher."
Die aufkeimende Hoffnung war sinnlos.
"Er würde mich überall finden ", erwiderte Ramis leise. "Ich würde nur euch zwei auch noch ins Unglück stürzen."
"Aber du kannst hier nicht bleiben!"
"Ich bin kein freies Dienstmädchen, das kündigen darf, nicht wahr?"
Unglücklich nickte Martha.
"Francis hat dich damals auf einem geheimen Sklavenmarkt gekauft. Sir Edwards Macht über dich ist absolut."
"Aber ich habe Angst, ganz alleine zu fliehen! Ich kann das nicht." Ramis war völlig verzweifelt. "Ohne dich kann ich unmöglich leben. Ich habe keine Kraft dazu."
Etwas in der Stimme des Mädchens ließ Martha glauben, was es sagte.
"Ich wünschte, wir könnten zusammen fliehen. Aber dazu müsste Emily gesund sein." Martha fühlte sich furchtbar schuldig, weil sie Emilys Leben gegen Ramis Seele abwägen musste.
"Bi tte sag Emily nichts von alldem", flüsterte Ramis "Sie würde sich nur schuldig fühlen."
Es gab keinen Ausweg. Sie konnten nur hoffen, dass Sir Edward Ramis künftig in Ruhe ließ. Aber Ramis spürte, dass er das nicht tun würde. Die Welt um sie herum begann in Finsternis zu versinken.
"Geh jetzt nicht fort, Ramis!" , hörte sie Martha dumpf an ihren Ohr.
Diese merkte, dass sie das Mädchen verlieren würde, wenn sie es jetzt losließ.
"Bitte geht nicht fort! Schau mich an!" , befahl sie eindringlich.
Ramis Blick wurde wieder scharf und erfasste sie.
"Ic h habe Angst", murmelte sie.
"Mein kleines Mädchen, ich werde dich so gut beschützen, wie ich kann." Doch sie wusste selbst, wie wenig das war.
"Meine Seele ist weg."
"Nein, sie ist noch da, Ramis ", beeilte sich Martha zu erwidern. "Niemand kann dir deine Seele wegnehmen. Du bist nur verwirrt."
"Wirklich? Bist du dir da sicher?"
"Ja."
Diese Feststellung übte eine erstaunlich tröstliche Wirkung auf Ramis aus. Martha lächelte sie freundlich an und schlief von einem auf den anderen Augenblick ein, weil die lange Krankheit ihren Tribut forderte.
Ramis betrachtete die Schlafende eine Weile und ging dann zu ihrem eigenen Bett, in dem sie sich verkroch, ohne an die bereits fortgeschrittene
Weitere Kostenlose Bücher