Dunkle Häfen - Band 1
keine zwei Jahre vergangen. War das wirklich erst vor kurzem gewesen? Es kam ihr vor, als läge ein ganzes Menschenleben zwischen dem naiven Mädchen von damals und ihr. Bitter schmeckte die Erinnerung daran. Alles hatte so vergnüglich angefangen und dann hatte Sir Edward alles zerstört... Lettice musste gehen und er suchte sich ein neues Opfer... Sie schüttelte wild den Kopf, um nicht mehr daran denken zu müssen. Die Schlafmütze kam ihr wieder in den Sinn. Ramis bewahrte sie immer noch in ihrer kleinen Kiste auf, zusammen mit den anderen kleinen Schätzen, die sie angesammelt hatte. Das waren nicht viele, ein paar schlichte Kleider, die an mehreren Stellen geflickt und umgenäht worden waren, weil sie zu groß waren, wenn sie sie bekam. Man gab ihr nur die alten Lumpen. Martha tat, was sie konnte, um dem Mädchen manierliche Kleider zu nähen. Außer diesen Dingen besaß sie ein paar von Martha gemachte Spielsachen und verschiedene Fundstücke, darunter ein schön geformter Stein, getrocknete Blumen und einen schmalen Ring, der wohl Lady Harriet gehört und den sie in einem Zimmer verloren hatte. Ramis gab ihn nicht mehr zurück. Er war schlicht, aber sicher wertvoll, denn er hatte einen schönen blauen Stein und schien aus Gold zu sein. Sie zeigte ihn nicht einmal Martha, weil diese verlangt hätte, dass sie ihn zurückgäbe. Aber er gehörte jetzt Ramis. Lady Harriet hatte selbst genug Schmuckstücke, die tausendmal wertvoller waren als dieser Ring. Ramis war sich keiner Schuld bewusst, Lady Harriet hatte ja nie nach ihm gefragt. Wenn sie allein war, steckte sie in an den Finger - er passte gerade an ihren Zeigefinger - und drehte ihre Hand hin und her, um ihn glitzern zu sehen. Sie ehrte ihn mehr, als Lady Harriet das tun würde, mit ihren dünnen, knochigen Fingern, an denen viel prunkvollere Ringe saßen.
Ihre Gedanken kehrten wieder einmal zu Lettice zurück. Obwohl sie diese kaum gekannt hatte, grübelte sie oft über sie nach. Auch Lettice war ein Opfer von Sir Edward geworden, wenn zugegebenermaßen auch freiwilliger, falls die Gerüchte stimmten. Aber darauf sollte sie nicht vertrauen, ermahnte sie sich. Es wurde viel geklatscht im Haus und nur wenig davon entsprach ganz der Wahrheit.
Ramis blieb vor einem Fenster stehen und blickte hinaus. Die Sonne leuchtete rot, weil sie bald untergehen und erst am nächsten Morgen wieder zu sehen sein würde. Pures, gleißendes Feuer, so hell, dass man nicht direkt hineinblicken konnte, ohne zu erblinden und die Augen abwenden musste. Früher hatte sie gern im Licht der Sonne gestanden, um die Wärme zu spüren, die bis ins Innere vordrang. Aber seit jenem Morgen, als der Feuerball so rot wie ihr Blut, das ihren Wunden entströmte, gefärbt gewesen war, hatte sich viel verändert. Manchmal bekam sie das Gefühl, von innen her zu brennen, als würde ihr Körper die Hitze der Sonne aufnehmen. Ein schwelender Brand war entstanden, der sie verzehrte. Dann war ihr wieder, als wäre sie taub und ohne Empfindungen. Es lag eine ungute Kraft in diesem kleinen Flämmchen, das rasch an Intensität zunahm. Feuer und Eis, Zerstörung und Erstarrung.
Ramis war zerrissen, aufgerieben zwischen den ständig wechselnden Stimmungen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und kauerte sich auf den Boden. Sie konnte diese Erinnerungen nicht mehr ertragen! Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei, doch um was hätte sie schreien sollen? Sie fing an, sich wild hin und her zu wiegen. Dabei krallten sich ihre Fingernägel in ihre Stirn, in ihre Haare. Es war ein Schmerz, den sie nicht bestimmen konnte. Doch irgendwann war der Anfall vorüber und sie bekam wieder Luft. Sie atmete tief durch. Das musste der Wahnsinn gewesen sein. Das Stadium, in dem man in das Irrenhaus eingeliefert wurde. In Zukunft durfte das nicht mehr passieren, sie musste die Kontrolle behalten. Nie wieder ein Augenblick der Unaufmerksamkeit. Die anderen hielten sie sowieso schon für eine Verrückte, manche flüsterten sogar, sie müsse ein Wechselbalg oder ein Kind des Waldes sein. Es wusste ja auch niemand, woher sie kam. Die Mutmaßungen verstörten sie zutiefst, denn sie war empfindlich in Bezug auf ihre Herkunft. Sie fragte sich, ob nicht etwas Wahres daran war.
Ihr fiel zwar auf, dass sie keinerlei Kontakt zu den anderen Bediensteten und außer Martha keine Freunde hatte, weshalb sie oft einsam war. Sie betrachtete das allerdings als eine notwendige Bestimmung, die ihr vom Schicksal auferlegt war. Manche
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