Dunkle Häfen - Band 1
Mädchen. In dem blassen, verhärmten Gesicht sahen sie aus wie die einer uralten Frau, grau, gleichgültig und auch sehr verbittert. Die meisten Hausangestellten mieden Ramis, außer Francis, der sie weiterhin erbarmungslos herum scheuchte. Und die ganze Zeit sprach sie kein Wort. Niemand versuchte sie zu trösten oder bemerkte ihren kraftlosen Zustand. Sir Edward ließ nichts von sich hören, er schickte nicht nach ihr. Wenn er das getan hätte, Ramis würde es nicht noch einmal verkraftet haben. Sie welkte dahin wie eine zu früh verblühte Blume.
Tagsüber war alles nicht so schlimm, sie war abgeschirmt durch die Leere und ihre unaufhörliche Arbeit, aber nachts kamen die Alpträume und Ängste mit einer solchen Intensität, dass sie immer mehr zur Realität wurden. Sie erwartete stets voller Grauen die Zeit des Zubettgehens und ließ die Kerze immer möglichst lange brennen, um die Dunkelheit abzuhalten. Ihr Körper schmerzte, obwohl er längst verheilt war und sie glaubte, ständig schmutzig zu sein. Das unstillbare Bedürfnis, sich dauernd zu waschen, plagte sie. Ihre Träume selbst waren voll Blut und Angst.
Einmal träumte sie von einer Möwe, die über ein riesiges Gewässer flog. Aus ihren klagenden Rufen formten sich Worte:
"Wo ist mein Kind? Wo ist mein Kind?" , rief sie ständig.
Ramis stand unten und blickte hinauf. Sie wollte unbedingt zu ihr, aber ihre Füße waren schwer wie Blei, sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Eines wusste sie ganz genau: Sie musste zu dem Vogel gelangen. Doch dann entdeckte sie die dicke Nebelwand, die unaufhaltsam auf sie zuzog. Und sie wusste, diese Schwaden bargen eine tödliche Gefahr. Aber sie konnte nichts tun, sie war am Boden festgekettet. Verzweifelt versuchte sie zu schreien, kein Laut kam über ihre Lippen. Hilflos sah sie zu, wie sich die Nebelwand langsam um die Möwe schloss, um sie für immer zu verschlucken. Kurz bevor sie verschwand, platzte die Möwe plötzlich und das Blut schoss in alle Richtungen, stürzte wie ein Wasserfall auf sie herunter. In diesem Moment trat eine Gestalt aus dem Nebel hervor. Sie war in schwarze Lumpen gehüllt, die sie ganz verdeckten. Als die Kapuze herunterfiel, erkannte sie Sir Edward.
" Das war doch gut, kleine Semi", röchelte er und streckte eine Hand nach ihr aus, die mit eiternden Geschwüren bedeckt war. Ramis schrie.
Etwas biss sie in die Wange und sie wachte schweißgebadet auf. Es war stockfinstere Nacht. Sie spürte Bonny über ihrem Gesicht, die aufgeregt maunzte. Dankbar strich das Mädchen der Katze über das warme Fell. Ramis zitterte noch am ganzen Körper. Der Traum hatte sie völlig aufgewühlt und es dauerte sehr lange, bis sie wieder einschlafen konnte.
Am Morgen war sie todmüde und hatte Kopfweh. Sie litt unter dem Schlafmangel, da sie jeden Abend spät ins Bett ging, aus Angst vor den Träumen der Nacht. Langsam schlurfte sie zur Tür, um Wasser für Martha zu holen. Erst hörte sie das Krächzen gar nicht und glaubte sich verhört zu haben, aber dann hielt sie inne.
"Ramis, mein Kind..."
Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass es von Marthas Bett kam. Eilig kniete sie sich an Marthas Bett und blickte ihr aufmerksam ins Gesicht.
"Ramis..." , brachte Martha noch einmal hervor.
"Du b ist wieder bei Bewusstsein!", stammelte Ramis und ihre Augen brannten plötzlich. "Ich dachte, du würdest nie wieder aufwachen."
"Was war denn los, Liebes? Ich weiß nur noch, dass ich im Wäschezimmer umgekippt bin."
"Du warst sehr krank, Martha. Fast das ganze Haus war krank. Ein paar sind sogar gestorben. Es war so schrecklich. Keiner hat geglaubt, du würdest es überleben, aber ich wollte mir gar nicht vorstellen, dass du... Nun wirst du ja wieder gesund." Ihre Stimme hörte sich in ihren Ohren belegt an, da sie schon lange nicht mehr gesprochen hatte.
"Lass dich mal anschauen, Kindchen." Martha streckte langsam eine Hand nach ihr aus. "Du bist ja ganz blass! Und die dunklen Ringe um deine Augen! Du bist ja völlig fertig, Mädchen. Was ist los mit dir?"
Ramis blickte beschämt zur Seite.
"Ich habe nur ein bisschen zu wenig geschlafen, als du krank warst. Es war eine anstrengende Zeit, das ist alles."
"Da ist doch noch mehr, das sehe ich dir an."
Ramis sah Martha direkt ins Gesicht und diese erschrak über die namenlose Angst und die brennende Scham in ihren Augen.
"Was haben sie mit dir gemacht? Liebes, du musst es mir erzählen"
Das junge Mädchen zögerte und schluckte krampfhaft.
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