Dunkle Häfen - Band 1
auch die letzten Empfindungen mit dem Blut und Schmutz angespült worden. Eine tiefe Dunkelheit hatte sich ihrer bemächtigt. Die altvertraute Leere war beinahe schon tröstlich. Es war dumm gewesen, zu glauben, sie könne ihr entkommen. Warum wollte sie das überhaupt? So konnte sie niemand en mehr verletzen, es gab nichts mehr zu verletzen. Sie schien in einem merkwürdigen Zustand zwischen zwei Welten zu sein. Das Leben war aus ihr verschwunden, trotzdem hielten ein paar letzte Fäden sie noch in dieser Welt fest. Sicher würden auch sie bald reißen. Für die Kälte in ihrem Herzen gab es keine Worte. Unbeteiligt sah sie zu, wie sich etwas in ihr aufraffte, ihren Körper aufrichtete und sie zur Tür schwanken ließ. Diese Tat war so sinnlos. Ramis konnte sich selbst in dem langen, weißen Hemd mühsam vorwärts humpeln sehen. Der Schmerz, den sie spüren sollte, gehörte in eine andere Welt. Er war weggewaschen. Nicht einmal er war noch da. Dennoch musste irgendetwas in ihr noch leben, ein verborgener Wille, der Entscheidungen traf. Aber gleich einem Schlafwandler oder einem Berauschten hatte sie keine Verbindung dazu. Genauso gut hätte es jemand anders sein können, der da die leeren, dunklen Gassen durchquerte und auf den Straßen Londons dahin wankte. Die kleine, verlorene Gestalt in dem wabernden weißen Hemd glich einem Geist und die glasigen Augen waren die einer Toten.
Ein verkrüppelter Bettler bekreuzigte sich hastig und humpelte auf seinem Krücken schnell davon, als er die leichenblasse Erscheinung mit den roten Flecken auf dem Kleid entdeckte, der ein blutiges Rinnsal aus der Nase lief. Der Mann war überzeugt, einen Geist gesehen zu haben, eine Botin aus dem Totenreich. Noch nie hatte er so eine Angst gehabt, obwohl er ja schon einiges gesehen hatte.
Ramis sah, wie die roten Tropfen von ihrem Kinn auf den weißen Stoff fielen und dort festtrockneten. Unaufhaltsam kam immer mehr Blut, bis es zu einer Flut wurde, die ihren Körper hinabfloss. Das Hemd wurde durchnässt und schwerer und als es nichts mehr aufnehmen konnte, tropfte das Blut auf den Boden und bildete Pfützen hinter ihr. Während sie weiterlief, entstand hinter ihr ein roter Fluss. Und plötzlich floss es nicht mehr nur aus ihrer Nase. Es drang aus jeder Pore ihrer Haut hervor. Ihr Körper schien zusammenzuschrumpeln wie eine faulige Frucht und wurde immer kleiner. Doch die Leere füllte sie wieder auf, gab ihrer Form Stabilität. Sie wunderte sich nicht über diese Widersinnigkeit. Die Welt war ein einziges Chaos und hielt sich nicht an das Wirklichkeitsempfinden der Menschen. Es gab nichts Unmögliches. Die ganze Stadt und mit ihr die Häuser waren in ihr Blut getaucht, verschwammen vor ihren Augen. Die aufgehende Sonne war ebenso blutrot. Gegen ihre Füße schwappte die Flüssigkeit. Ein verfärbtes Maple House tauchte undeutlich vor ihr auf. Sie fragte sich, was sie hier wollte. Hier war die Brutstätte des Bösen, das Heim des Teufels. Sie nahm nicht die offiziellen Eingänge, sondern betrat das Haus durch eine kleine Tür vom Garten her. Ihre Beine fanden selbst den Weg, führten sie durch all die Gänge und Zimmer. Sie hielt vor einer Tür an und betrat lautlos den Raum, der ihr einst vertraut gewesen war. Als sie vor dem Bett stand und auf die kranke Frau und die graue Katze herunter starrte, da wusste sie plötzlich, warum sie zurückgekommen war.
Im Dunkeln
Mit der Zeit schien Ramis das Ereignis ebenso wegzustecken und verschwinden zu lassen wie alle anderen bösen Erinnerungen. Mit dem nächsten Tag war auch der Schmerz zurückgekehrt. Aber indem sie hart arbeitete, konnte sie vergessen, was geschehen war. Dennoch veränderte sie sich merklich. Mechanisch und wie ein schlechter Schauspieler, der seine Rolle stur auswendig gelernt hat, war jede ihrer Bewegungen. Hinter dem Schleier ihrer Augen lauerte ein Grauen, dem sie sich nicht stellen konnte. Sie pflegte Martha weiterhin hingebungsvoll, als hinge alles davon ab.
Nach einigen Tagen im Schatten des Todes war M artha unerwarteterweise über den Berg. Sie würde überleben. Neben dieser Hauptaufgabe verrichtete Ramis die ganze Näharbeit und auch ihre eigenen Aufgaben, Botengänge und was sonst noch so anfiel. Sie war eben das Mädchen für alles. Wirklich für alles, dachte ein Teil von ihr mit bitterem Sarkasmus. Äußerlich hatte ihre Erscheinung jeden Schwung verloren, in ihren Augen lag ein hoffnungsloser Schimmer. Sie waren das Schlimmste an dem
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