Dunkle Häfen - Band 1
sagte nichts, rief auch nichts, um sie abzuhalten. Jetzt musste sie handeln. Doch sie konnte einfach nicht, nicht solange er dastand und nichts tat. Vielleicht würde der Boden auch gar nicht hart genug sein und sie nur verletzen, aufgeweicht vom Regen... Schweren Herzens zog sie sich wieder zurück und hob das Amulett auf. Es hatte keinen Sinn. Sie hasste den Gärtner dafür, dass er sie an ihre Verantwortung erinnerte. In diesem Moment hasste sie auch ihre drei Freunde, die ihr ihre Leben aufbürdeten. Sie wollte fliehen, konnte es aber nicht.
In einem verzweifelten Anfall, der sich gegen sie selbst richtete, zerkratzte sie sich das Gesicht und riss an ihren Haaren. Seltsame Laute kamen ihr über die Lippen, dann rannte sie los. Sie rannte aus dem Haus, die leeren Gassen entlang, versank im Matsch, beachtete es gar nicht. Sie rannte, bis sie der Länge nach im stinkenden Schlamm landete. Eine Weile lag sie einfach so herum und schmeckte den Schmutz in ihrem Mund.
Schließlich stand sie auf. Gähnende Leere erfüllte sie und ließ nur Eis zurück. Es nützte nichts, sich dagegen zu wehren. Sie sah an ihrem Körper herunter, der von oben bis unten mit Matsch beschmiert war. Oh ja, sie war besudelt, für immer und es spielte keine Rolle mehr, ob sie es noch mehr wurde. Damit opferte sie sich wenigstens noch für Martha und die anderen. Ihnen würde nichts geschehen. Sie kicherte bitter vor sich hin. Wenigstens konnte sie so bei Martha bleiben. Ohne diese Frau würde Ramis ihre Seele verlieren. Sie hielt sie fest, wenn das Nichts alles vernichtete.
Das Mädchen kehrte mit leeren Augen zurück.
Am Abend ging sie beinahe unbeteiligt zu Sir Edward. Der innere Kampf tobte weit weg, zerfraß ihr Wesen woanders. In den Momenten der schrecklichen Klarheit versuchte sie sich in der Leere zu verstecken, zu verdrängen, was er ihr antat. Doch am Ende gab es für sie kein Vergessen, keine Rettung, nur die immerwährende Wiederholung des Entsetzens. Irgendwann begann sie zu glauben, dass sie es verdiente, mit so viel Gewalt behandelt zu werden. Es musste doch eine Strafe sein, dass er sie all die Abende zu sich holte. Brennende Scham erfüllte sie und schottete sie nach außen hin ab, als wäre sie schuld an dem, was passierte. Sie ließ sich nichts anmerken, wurde nur immer stiller und so kam es, dass Martha gar nichts auffiel.
Den ganzen Winter lebte sie in diesem Gefängnis aus Scham und Angst, um sie herum war nur Grauen. Und sie hätte dieses Schattendasein vermutlich weiter geführt, wenn nicht ein Stein ins Rollen gekommen wäre und alles mit sich gerissen hätte. Zu diesem Zeitpunkt glaubte das Mädchen in der Hölle zu leben, in einem finsteren Schlund, weit entfernt von der übrigen Welt.
Als der Frühling des Jahres 1697 heran brach, ahnte Ramis noch nichts von Veränderungen. Seit fünf Jahren war sie nun schon in Maple House, doch zurzeit musste sie besonders viel erdulden. Weil sie ihre Arbeit immer abwesend und fahrig verrichtete, wurde ihr ständig Strafarbeit aufgeladen. Sie saß mehr denn je in der dunklen Kammer, wo sie Panik überwältigte und sie überall um sich herum Dämonen zu sehen glaubte. Sie konnte die Trennlinie zwischen dem Wahnsinn und der Realität nicht mehr sehen, falls es da je eine gegeben hatte. Wann immer es möglich war, verschwand Ramis von der Bildfläche. Meistens ging sie dann in den Garten, der einzige Ort, wo sie allein sein konnte.
Der Schnee war fast ganz weggeschmolzen und hatte Bäume und Boden aus seiner Umklammerung freigelassen. Überall lugten schon die Köpfe der Frühblüher heraus und erste zaghafte Sonnenstrahlen brachten frühlingshafte Temperaturen. Die Natur erwachte und rief in den Bewohnern von Maple House neue Tatkraft und Frühlingsgefühle hervor. Doch die junge Ramis fühlte sich mehr als zuvor wie ein alter, verdorrter Baum, der den Winter nicht überstanden hat te und dessen Dahinscheiden erst bemerkt wurde, wenn alles andere aufblühte. Der Schnee war getaut, aber nicht das Eis in ihr, das alles Lebendige hatte erfrieren lassen. Wenn sie sich ins Gras setzte, spürte sie die Nässe ihren Rock durchdringen und die Kälte des Bodens, doch sie drangen nicht weiter vor. Die Sonnenstrahlen konnten sie nicht mehr wärmen, immer fröstelte sie. Auch ihre Katze Bonny wurde sehr geschäftig und blühte auf. Ramis nahm sie in den Arm und streichelte das warme seidige Fell.
"Kannst du mir nicht ein bisschen Leben abgeben?" , flüsterte sie ihr einmal
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