Dunkle Häfen - Band 1
zu.
Bonny sah sie nur aus ihren grünen Katzenaugen an, die fast gleichgültig wirkten.
In den letzten Tagen ging es ihr noch schlechter und ihr war ständig übel. Eines frühen Morgens verließ sie das Haus, um Emily zu besuchen und ihr einen Korb mit Essen zu bringen. Sie wählte diese frühe Stunde, um dem dichten Menschengewühl zu entgehen, das sich während des Tages die Straßen entlang wälzte. Außerdem durfte sie sonst nicht weggehen, ohne Erlaubnis. Aber jetzt schlief Francis noch, er würde es gar nicht bemerken.
Es erstaunte sie stets aufs Neue, wie viele Leute in London lebten. Sie hatte immer geglaubt, dass alle Bewohner der Stadt sich gerade an der Stelle aufhielten, an der sie vorbeikam, aber das war stets nur ein Bruchteil der Menschen, die es hier gab. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und es war noch dämmrig. Im Moment war kaum jemand unterwegs. Ramis sah einen Obdachlosen in eine Decke gewickelt an einer Hauswand liegen. Ob er noch lebte? Es musste entsetzlich kalt sein, draußen zu schlafen. Ihr war zu Ohren gekommen, dass jeden Winter viele der Armen erfroren, weil sie kein Dach über dem Kopf hatten oder nur unzureichend geschützt waren. Oft lagen auch einfach die Toten auf der Straße herum, vor allem in den Elendsvierteln. Es musste schrecklich sein, langsam in der Kälte zu sterben, seinen Körper erkalten zu fühlen, bis alles taub war. Oder war es ähnlich wie innerlich zu erfrieren? Schon hatte sie die Taubheit erfasst. Der endgültige Tod wäre wie eine Erlösung. Nur wenn man sie wieder aufweckte, ihre erstarrten Glieder mit Blut füllte, würde es schmerzen, die Empfindungen wieder wachrufen. Fortwährend wünschte sich Ramis, ihr Körper wäre erfroren und nicht ihre Seele. Dann wäre sie irgendwann einfach nicht mehr aufgestanden, um jeden Tag von neuem die Last ihres Lebens ertragen zu müssen. Sie hätte auch abends nicht mehr zu Sir Edward gehen müssen, den grausamen Akt der Gewalt nicht immer wieder ertragen müssen. Sie schüttelte den Kopf, wie um diese Gedanken abzuwehren, vielleicht auch vor Fassungslosigkeit über die Bosheit der Welt. Neuerdings bekam sie das Gefühl, dass viele Gestalten mit großen Hämmern auf ihren Kopf einschlugen und sie zu erdrücken drohten. Es war eine der Vorstellungen, bei denen man einfach schreien musste und wegrennen vor dem Wahn im Inneren. Mit einem traurigen Seufzer ging sie weiter.
Morgens war London noch so ruhig und wie verlassen, als würde es keine Menschen geben. Es wirkte beinahe friedlich, verschlafen, ein dicker Teppich, der von den Schlafenden ausging. Bald würde es erwachen, Stimmen würden die frische Luft durchschneiden, erst gedämpft, dann immer lauter, bis das übliche Geschrei vorherrschte. Die heimliche Gewalt, verborgen in den düsteren Häuserschluchten, würde ihre Opfer preisgeben, die sie in der Nacht gefordert hatte. Im Schlummer waren die Menschen um so vieles besser, friedlich wie Kinder. In dieser Zeit hörten sie auf zu morden, zu hänseln und zu verletzen. Warum konnten sie nicht bis in alle Ewigkeit weiterschlafen, versunken in ihren Träumen?
Ich kann nicht einmal ruhig schlafen, dachte sie , auch dieser Trost bleibt mir nicht...
In ihren Träumen gab es nur Angst.
Ramis war erleichtert, als sie das Gebäude erreichte, in dem Emily untergebracht war. Sie durfte sich ihren Gedanken nicht hingeben. Das Haus vor ihr war klein und alt, aber ordentlich. Genauso waren die Besitzer, das wusste Ramis. Beim ersten Mal, als sie hier war, staunte sie, wie sich das Haus zwischen die Fassaden der beiden anderen Häuser schmiegte, die ein geraumes Stück höher waren. Ganz so, als fühle es sich dort wohl. Überall in der Gasse bröckelte bereits der Putz ab, aber es war eine Gegend, in der rechtschaffene Leute wohnten, die ins Alter gekommen waren und von ihren Ersparnissen oder dem Zuschuss ihrer Kinder lebten.
Das Mädchen überlegte, ob sich die Hausbesitzer ärgern würden, wenn sie schon wieder so früh kam. Emily machte es gar nichts aus, das hatte sie gesagt. Sie habe sowieso nichts anderes zu tun als zu schlafen und zu warten, da könne man sie gar nicht stören. Aber auch Mrs Delay, die Hausbesitzerin, war bereits aufgestanden , als Ramis an die Tür klopfte. Sie trug ihre Tageskleidung und wirkte schon sehr wach. Freundlich ließ sie das Mädchen herein. Emily hatte großes Glück mit ihrer Vermieterin. Sie kümmerte sich sogar noch um die Kranke und das kostenlos, denn bezahlte Pflege hätte
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