Dunkle Häfen - Band 1
war sie wirklich schön, stellte Martha immer wieder fest, gerade weil es ein so seltenes Ereignis war.
"So, ich gebe dir ein paar Leinen binden mit, die du tragen musst", sagte Martha nun wieder nüchtern. "Wechsle sie regelmäßig."
Ramis nahm die Lappen an sich und verließ das Zimmer.
"Danke für deine Hilfe!" , rief sie noch von draußen.
"Nichts zu danken ", murmelte Martha sich selbst zu. Sie war weitaus besorgter, als sie sich eingestand. Sie fühlte, dass sich Wolken am Horizont auftürmten.
Ramis saß in einer Astgabel auf der alten Eiche, die mitten im Garten stand und träumte vor sich hin. Heute war es noch einmal sonnig, danach würde das triste Grau endgültig alles verschlingen. Es war schon sehr kühl und man musste sich warm anziehen. Immerhin war die Luft noch warm genug, um die süßen Augenblicke des Nichtstuns zu genießen. Die Feuchtigkeit des letzten Regens stieg dampfend aus dem Gras auf. Ramis bekam das Gefühl, außerhalb der Zeit zu stehen, in einem fremden Reich, wo die Dinge dieser Welt keine Rolle mehr spielten. Sie gab sich ganz dieser Vorstellung hin, konnte vergessen, dass es für das Dienstmädchen Ramis immer etwas zu tun gab. Es war Ramis, die Fee, die hier friedlich auf dem Jahrhunderte alten Baum saß und keine Sorgen hatte. Sie erfreute sich am Spiel der Vögel, die ihre Lieder zwitscherten und an dem kleinen Igel, der eilig durchs Gras watschelte. Er lebte in diesem Garten, inmitten von London, als gäbe es nur Wiesen und Wälder um ihn herum. Leider wurde sie bald schon wieder aus ihren Fantasien gerissen.
"Ramis!" Das war Marthas Stimme.
Kurz darauf sah Ramis sie über die nasse Wiese kommen. Anscheinend gab es wieder Arbeit.
"Ich bin hier!" , rief sie verstimmt.
"Was machst du auf dem Baum?" , tadelte Martha, als sie unter Ramis stand. "Eine erwachsene Dame klettert nicht auf Bäume."
"Martha, ich bin keine Dame! Und ich habe es satt, erwachsen zu sein! Warum soll sich ein dreckiges kleines Dienstmädchen wie eine Dame benehmen müssen? Es ist sowieso schon ungerecht genug."
Sie hatte gerade alles satt. Zwar waren die Tage endlich vorbei, in denen sie geblutet hatte, aber wie Martha prophezeit hatte, musste sie sich bis ins hohe Alter einmal monatlich damit abfinden. Wieso traf das nur die Frauen? Die Welt war überhaupt nicht freundlich zu Frauen. Es genügte nicht, dass sie Röcke tragen mussten und die Kinder bekamen, nein, sie wurden auch noch geringschätzig behandelt. Ein Leben in Schmerz, während die Männer sich ihrer Meinung nach nur vergnügten.
"Ramis, bitte! Komm herunter. Klagen nützt auch nichts."
"Ich will keine Frau sein!" , schrie Ramis jetzt wütend herunter. "Ich will gar nichts mehr sein! Alle trampeln nur auf mir herum, ich bin Dreck zu ihren Füßen! Sie glauben, sie können mich benutzen wie ein...wie ein..., ach, wie irgendeinen Gebrauchsgegenstand!"
"Und trotzdem lebst du, weil Gott es so gewollt hat. Du bist, was du bist. Eines Tages wirst du vielleicht frei sein. Aber jetzt musst du erst mal zum Essen kommen. Du kannst nicht immer zu spät hereinplatzen."
Es ist sowieso nie etwas für mich übrig, dachte Ramis böse, als sie herunterkletterte und sich Moos und Rinde nstücke von der Kleidung klopfte. Außerdem hasste sie den Lärm und das Geschubse in der Gesindestube. Äußerlich ergeben folgte sie Martha ins Haus, während es innerlich brodelte.
Leere
Gegen Abend des nächsten Tages fing es fürchterlich an zu regnen und hörte auch die darauffolgende Woche nicht auf. Es goss wie aus Kübeln und die Straßen waren bald ein unbegehbares Schlammfeld. Niemand wagte sich hinaus, soweit er nicht musste. Viele der Keller liefen bereits voll, weil die Häuser so baufällig waren und ihre Fenster direkt an den Rinnsteinen hatten. Das Wasser vertrieb sogar die Ratten, die man über die Straßen huschen sah, auf der Suche nach einem trockenen Plätzchen. In der Stadt wurde vereinzelt schon wieder die Furcht vor Seuchen laut, denn die letzte große Pestkatastrophe war auch noch nicht so lange her, in vielen Köpfen war die Erinnerung noch sehr lebendig.
In Maple House war die Stimmung sehr gedrückt. Alle waren gereizt und unruhig, so dass sich die meisten aus dem Weg gingen. Besonders seine Vorgesetzten mied man geflissentlich. Ein Streit mit ihnen konnte durchaus den Rauswurf bedeuten und keiner wollte bei diesem Wetter obdachlos sein. Ansonsten bekam man eben viel Arbeit aufgebürdet. Die persönlichen Diener von Lady
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