Dunkle Häfen - Band 1
Harriet konnten einem wirklich leid tun. Unbarmherzig wurden sie von einer Ecke zur anderen gescheucht und dabei angekeift. Sir Edward hatte sich entnervt vom Gejammer seiner Frau in seine Räume zurückgezogen. Da Francis nichts zu tun hatte, streifte er ziellos durchs Haus und tyrannisierte seinerseits seine Untergegebenen, die Unglücklichen, die ihm begegneten. Irgendwann würde es Mord und Totschlag geben, wenn er auf die Köchin traf.
Doch bis dahin war Ramis in höchster Gefahr. Sie war auf der Flucht vor dieser Schreckensherrschaft in die Bibliothek geeilt. Hier würde niemand so schnell hereinschauen und es war halbwegs warm. Sie setzte sich auf den Stuhl an dem kleinen Fenster und blickte durch die verstaubte Scheibe nach draußen in den Regen. Man konnte von dort aus den Garten überschauen. Das Prasseln hatte auch etwas Gemütliches an sich und machte sie schläfrig. Mit ihrem Finger malte sie Muster auf das Glas. Die Bögen, Zacken und Wellen ergaben ein abstraktes Bild und Ramis überlegte, was man darin finden konnte. Plötzlich vernahm sie jedoch ein Geräusch. Es war eindeutig die Tür, die geöffnet und wieder geschlossen wurde. Ihr Herz blieb einen Augenblick fast stehen und sie wagte nicht, sich zu rühren. Ein leises Tappen von Schritten. Da zögerte sie nicht mehr und versteckte sich hinter einem der Bücherregale. Es nahm fast eine ganze Wandseite ein und bot deshalb einen guten Sichtschutz. Hier war es noch dunkler und modriger. Sie traute sich kaum, zu atmen, aber sie hatte Mühe, nicht laut zu schnaufen. Eine Ader an ihrem Hals pochte wild. Die Schritte waren jetzt verklungen und Ramis wusste, der Eindringling stand vor dem Fenster. Ihre Zeichnungen! durchfuhr es sie eiskalt. Vorsichtig spähte sie um die Ecke und zog den Kopf gleich wieder zurück. Dort stand Sir Edward und begutachtete die Fensterscheibe. Zitternd kauerte sich Ramis tiefer hinter das Regal. Er durfte sie auf keinen Fall bemerken. Aber anscheinend war es dafür schon zu spät, denn seine Stimme durchschnitt die Grabesstille.
"Semi, was hast du hier zu suchen? Komm heraus, ich weiß, dass du da bist! Verstecken nützt nichts..."
Nein! Sie musste weg von hier. Schnell stand sie auf und schlich den Gang entlang. Als sie die Wand erreichte, wollte sie um die Ecke huschen, stieß allerdings sofort gegen die Gestalt, die ihr den Weg versperrte. Panikartig wollte sie zurückrennen, aber seine Hand schoss vor und hielt sie fest.
"Wohin denn so eilig? Du musst wirklich keine Angst haben." Blanker Hohn sprach aus seinen Worten, er lächelte unangenehm. "Weißt du, Mädchen, ich fühle mich gerade so einsam. Meine Frau ist ein alter Besenstiel und schrecklich zänkisch. Ich meide sie nach Möglichkeit. Sie ist keine gute Frau, weder im Bett noch im Haushalt." Er verzog das Gesicht. "Nicht einmal einen Sohn hat sie bekommen können... aber das interessiert eine wie dich nicht besonders, was?"
Ramis antwortete nicht und hatte auch nicht die Macht, ihre Gefühle nicht auf ihren Zügen zu zeigen.
"Leiste mir doch ein bisschen Gesellschaft."
"Ich habe noch viel zu tun heute, Sir!" stieß sie hervor.
"Ach, deshalb zeichnest du ja auch müßig Bilder auf die Fensterscheiben? Aber na gut, geh zurück zu deiner Arbeit." Seine Stimme klang auf einmal gefährlich und kalt. "Dafür meldest du dich heute Abend bei mir. Und denk daran, du hast mehr zu verlieren als dich selbst... Sei einfach ein braves Mädchen und gehorche, ja?"
Grinsend tätschelte er ihr die Wange und ließ sie in der Bibliothek zurück.
Ramis blieb wie betäubt stehen. Die Verzweiflung senkte sich wieder über sie und auch furchtbare Angst. Langsam trat sie zum Fenster und öffnete es. Sie beugte sich über den Rand und blickte hinunter. Es waren viele Meter bis zum Boden, genug um einen Menschen zu töten. Sie schloss die Augen und überlegte, wie es wohl wäre, dort unten aufzuschlagen und nie mehr dieses Grauen fühlen zu müssen. Es wäre so einfach. Sie wollte jetzt nicht an Martha denken, nicht an Bonny und Emily. Unter ihr baumelte das Amulett, als wolle es sie zurückhalten. Entschlossen streifte sie es über den Kopf und ließ es hinter sich auf den Boden fallen. Sofort fühlte sie sich etwas Vertrautem beraubt. Aber sie durfte nicht zaudern. Es gab keinen Ausweg mehr. Sie schob sich halb aus dem Fenster. Nur nicht nach unten schauen. Sie tat es doch.
Unten stand der Gärtner und blickte hoch. Er musste da schon eine ganze Weile gestanden haben, aber er
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