Dunkle Häfen - Band 1
Marthas Einkommen überstiegen. Ramis folgte der Frau bis zu Emilys Zimmer. Anschließend betrat sie den warmen Raum, in dem stickig war, weil Emily keine kalte Luft abbekommen durfte. Und durch das Fenster mit der milchigen Scheibe fiel das Licht zwischen den Häusern nur spärlich herein. Ramis sah, dass Emily wach war. Sie blickte ihr aus dem Bett entgegen. Emily hatte eine sehr weiße Haut, da sie das Haus nie verließ. Trotz ihres Alters wirkte sie seltsam jung, weil sie sich nie verlebt hatte. Ramis fand sie sehr schön. Und diese Schönheit gehörte nur Emily selbst, Martha und Ramis, sonst bekam sie niemand zu Gesicht, keiner verdarb sie durch seine schiefen Blicke. Diese Schönheit bestand nicht in klassischen Zügen und perfekten Formen. Nein, Emily war von ihrer Krankheit gezeichnet, doch ihre Kraft, das sanfte Leuchten, das sie ausstrahlte, machte sie für Ramis zu einem Engel. Nicht zu einem von diesen dicklichen Jungen mit den Flügeln und dem nackten Körper, wie man sie in der Barockzeit vergoldet als Figuren oder auf Gemälden finden konnte, sondern zu einer wahren Lichtgestalt, nicht von Menschenhand geschaffen und geformt. Ramis liebte sie sehr. Bei Emily fühlte sie sich gereinigt.
"Guten Morgen, Emily!" , rief sie ihr entgegen. "Ich wollte dir nur mal eben ein bisschen Brot und ein paar Äpfel mitbringen, gewürzt mit Grüßen von Martha. Wie geht es dir?"
"Na, wenn du so fragst, stelle ich eben fest, dass es mir gleich besser geht, sobald ich dich sehe. Ansonsten so wie immer. Aber ich finde, du siehst schrecklich blass aus. Bist du vielleicht krank?"
Ramis, die gerade noch g elächelt hatte, fuhr erschrocken zusammen.
"Aber nein! Ich bin wirklich gesund. Das muss die kalte Luft sein..."
Wie ihrer Behauptung zum Trotz fühlte sie plötzlich Brechreiz in sich aufsteigen. Den ganzen Morgen über hatte sie es kommen sehen, die Luft hier drinnen tat ihr Übriges. Sich die Hand vor den Mund haltend, stürzte sie zur Nachtschüssel und würgte. Als sie wieder Luft bekam, sah sie verlegen zu Emily hoch. Sie hockte auf dem Boden, mit stinkendem Brei bespritzt, die Schüssel auf dem Schoß. Der bittere Nachgeschmack ihres Mageninhalts lag auf ihrer Zunge.
"Das tut mir leid, ich weiß nicht, was..." , murmelte sie verlegen. Emily unterbrach sie.
"Spiel mir bitte nichts vor, Ramis. So weltfremd bin auch nicht, selbst wenn ich mein ganzes Leben im Bett liege, dass ich nicht merken würde, dass es dir furchtbar schlecht geht. Schau dir nur mal deine Wangen an, sie sind richtig eingefallen. Wie hat dich Martha so aus dem Haus lassen können?"
"Sie weiß nichts davon..."
"Das ist doch nicht möglich. Du bis t ja halb verhungert."
Emily zog einen der Äpfel vom letzten Herbst aus dem Korb und reichte ihn Ramis. Diese begann mechanisch daran zu kauen.
"Ramis, hast du wirklich keine Ahnung, was dir fehlen könnte? Ist dir öfters schlecht?"
Ramis nickte.
"Beinahe jeden Morgen."
"Hast du schlimme Schmerzen?"
"Nein, eigentlich nicht. Es ist nur..."
Sie unterbrach sich. Zu schrecklich wäre es gewesen, Emily von den Schmerzen zu erzählen, die Sir Edward ihr verursachte. Nur sie und er wussten um die blauen Flecken, die ihre Kleidung verbarg, um die Blutergüsse.
"Sag mal, Ramis...wann hast du deine letzte Mondblutung gehabt?"
"Was?" Das Mädchen schrak zusammen und wurde rot. "Ach, ich weiß nicht...ich bin froh, wenn es nicht kommt."
"Kann es sein, dass das nun schon mehr als zwei Monate her ist?"
"Mmmhh, kann schon sein. Aber warum ist das so wichtig?"
Emily war um eine Spur bleicher geworden.
"Oh mein Gott, das ist doch nicht möglich! Bitte belehre mich eines Besseren! Lass es nicht dieses Mädchen sein!"
Emily hatte plötzlich so hektisch rote Flecken auf den Wangen, dass Ramis erschrak. Eine unaussprechliche Angst packte sie.
"Was, Emily, was? Was ist mit mir, muss ich sterben?"
Sie kniete sich an Emilys Bett.
Emily rang um Fassung.
"Wer mein Kind, wer hat dir das angetan?"
"Ich verstehe kein Wort!"
"Ramis, du bist vielleicht schwanger! Du bekommst ein Kind..."
"Warum das?! Ich verstehe gar nichts mehr!"
Ramis wurde immer verwirrter und ängstlicher.
Emily wurde abrupt klar, dass niemand das Mädchen aufgeklärt hatte. Sie hat keine Ahnung, was mit ihr passiert, dachte sie. Sie ist selbst noch ein Kind. Ich bete, dass ich mich täusche. Hätte ich b loß nicht so verfrüht losgeschrien! Jetzt musste sie Ramis die Wahrheit sagen, es blieb ihr nichts anderes übrig. Stockend
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