Dunkle Häfen - Band 2
Gewalttäter. Ein schmutzstarrendes Gesicht bewegte sich auf sie zu. Sie stand angespannt da, wappnete sich gegen einen Angriff. Vielleicht konnte sie sich verteidigen, weil die anderen so geschwächt waren.
"Wer bis'n du?" Die heisere Stimme kam von hinten, ganz dicht.
Sie spürte eine schwielige Hand auf der Schulter. Wild schüttelte Ramis sich frei. Beim Zurückweichen stieß sie gegen die Person hinter sich, die rumpelnd umfiel. Sie drohte, in Panik zu geraten.
"Ne ganz feine Dame, was? Wieso hab'n sie denn 'n Stütchen wie dich hier rein gesteckt?" Das war die Stimme von vorhin.
Ramis starrte den Haufen Lumpen an, aus dem Büschel von wirrem Haar ragten. Stumm zog sie sich in einen Schutzpanzer zurück und hielt sich mit den Armen umschlungen. Irgendwann ließ das Interesse der anderen nach. Sie war nicht die erste und nicht die letzte, die hier reinkam, das war nichts Neues. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Oft starben welche oder wurden zur Hinrichtung abgeholt. Der ganze Boden war bedeckt mit fiebernden oder ausgemergelten Kranken, die sich im Dreck wälzten. Wo schlug die Epidemie zuerst zu, wenn nicht im Gefängnis? Durch ein einziges Gitterfenster drang Luft herein, doch sie vertrieb den Gestank nicht. Quer über den Boden zog sich ein schmaler Kanal, in dem eine stinkende Brühe dahinfloss. Fäulnis, menschliche Exkremente überall. Es gab einige Betten, die kaum sauberer aussahen als der Boden und in denen drei oder mehr Menschen lagen. Ein an ein Skelett erinnerndes Wesen auf dem Boden übergab sich würgend. Nur Schleim und Blut kamen hervor. Ramis erbrach sich auf ihr Kleid. Sie glaubte, sterben zu müssen. Die Stunden hätten in der Hölle nicht schlimmer sein können. Während sie da stand, fühlte sie, wie das Ungeziefer, das überall am Boden krabbelte, ihre Beine hinaufkroch. Das Gestöhne trieb sie in einen Wahn, bis sie nur noch den Wunsch hatte, eine Fackel zu nehmen und all das hier abzubrennen. Es gab keine Worte mehr in dieser Finsternis.
Die ganze Nacht über verbrachte Ramis im Stehen, weil jedes Bett überfüllt war und sie sich nicht auf den Boden legen wollte. Gegen Morgen schob sie einfach einen Menschen beiseite und legte sich doch hin. Sie wusste nicht, wie viele Tage sie hier verbrachte und wie sie die Zeit überstand. Etwas in ihr schaltete einfach ab. Als die Wächter kamen und sich rücksichtslos einen Weg durch das Gewühl bahnten, fühlte Ramis sich nicht mehr lebendig. In normalem Geisteszustand konnte keiner den Aufenthalt hier überleben, nur wenn man in Gleichgültigkeit versank wie die meisten hier. Die Wächter pickten sich Ramis zwischen den Leuten heraus und schleiften sie an den Armen aus der Zelle.
"Du hast Glück, dass deine Bestrafu ng so schnell abgehandelt wurde", sagte einer. "Andere warten Jahre drauf."
Im Hof legte man sie ab. Grelles Sonnenlicht nahm ihr die Sicht. Deshalb kam der eiskalte Wasserschwall unvorbereitet. Dennoch brachte er sie wieder halbwegs auf die Beine. Dann nahm man ihr die Kleider weg und spülte sie mit Essig ab. Anschließend packte man sie in einen groben Kittel. Voller Entsetzen musste sie mit ansehen, wie man sie auf ein Gefährt zuführte, das oben offen war. Der Schinderkarren.
"Was habt ihr mit mir vor?" , rief sie. "Ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, was mit mir passiert!"
Ihre Wächter grinsten.
"Das wirst du bald erfahren."
Es war früh am Morgen und so war nicht viel auf Londons Straßen los. Ramis fragte sich, womit sie die 'Gnade' verdient hatte, dass ihre Hinrichtung kein öffentliches Fest war wie sonst. Keiner schien es angekündigt zu haben. Nur einige wenige Passanten blickten erstaunt auf und brüllten Schmähungen und Bemerkungen hinterher. Doch entgegen ihrer Erwartung brachte man sie nicht zum Galgen in Wapping, sondern zum Pranger. Mit lähmendem Entsetzen erkannte Ramis, dass man ihr eine 'Züchtigung' erteilen würde, die in einer bestimmten Anzahl Peitschenhieben bestand. Reichte es denn nicht, Ramis zu hängen? Sie sah mehrere Leute, die trotz der frühen Morgenstunde gekommen waren. Der Karren holperte auf den Pfahl zu, der auf einem Podest stand. Für gewöhnlich war es hier brechend voll, wenn einer gezüchtigt wurde.
Fayford sah zu, wie Ramis herangefahren wurde. Sie sah schrecklich aus. Sogar die Schuhe hatte man ihr weggenommen. Ihre nackten Füße und die schmalen Knöchel waren entblößt, weil der Kittel nicht lang genug war. Aus den kurzen Überresten ihrer einstigen
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