Dunkle Häfen - Band 2
hatte kein Ende mehr. Plötzlich stand sie in Sir Edwards Arbeitszimmer. Er saß an seinem Schreibtisch, als wäre nie etwas passiert, nur blasser war auch er geworden.
"Ich habe auf dich gewartet." Er stand auf und kam auf sie zu.
Ramis stellte fest, dass sie sich nicht rühren konnte.
"Liebste ", fügte er hinzu.
Sie ballte die Fäuste. "Kehrt dorthin zurück, woher Ihr kommt! Ihr seid tot!"
"Denkst du? Nach all den Jahren? Ich wusste immer, dass du zurückkehren würdest. Eines Tages musst du dich allem stellen! Allem! "
Er hielt etwas in den Armen. Es hing herunter wie ein Sack. Sie erkannte ein Baby, kaum lebensfähig. Mit sicherem Instinkt wusste sie, dass es ihres war, die Totgeburt, die in einem kleinen Grab im Garten verscharrt worden war. Doch seine Ärmchen bewegten sich und streckten sich nach Ramis aus. Aber ebenso konnte Ramis sehen, dass die Augen des kleinen Geschöpfes leer waren. Da lachte Sir Edward und ließ es fallen.
"Willst du es denn nicht mehr?"
Sie schrie auf und wollte sich zu dem Bündel knien.
"Komm nur zu mir Semi! Wenn du dieses Kind berührst, gehörst du mir! Es ist mein Kind..."
Nun streckte auch er die Hände nach ihr aus und sie erkannte, dass er den Rubinring daran trug. Voller Grauen floh sie aus dem Zimmer. Und plötzlich stand sie draußen, in dem verwilderten Garten. Sie musste sich einen Weg durch das wuchernde Gestrüpp bahnen. Nach einer Weile entdeckte sie ein schneeweißes Pferd, das zwischen den Pflanzen stand. Es hatte blutrote Augen und trug einen Reiter, der ganz in Schwarz gekleidet war. Ramis konnte sein Gesicht nicht ganz sehen, aber sie wusste auch so, dass es Fayford war.
"Kleine Hexe." Ein Lächeln umspielte seine Lippen "Ich dachte, du wärst tot. Siehst du dein Werk?"
Er machte eine Geste in Richtung Haus und schnalzte mit der Zunge.
"Du wirst nicht in den Himmel kommen. Und warum hast du mir nichts von meinem Sohn gesagt? Hast du gedacht, etwas, das unserer unglückseligen Vereinigung entspringt, kann gut sein? Sieh her!"
Wie in weiter Ferne konnte sie William sehen. Er war fast erwachsen und ähnelte seinem Vater frappant. Sein Gesicht war von abgrundtiefer Wut erfüllt und er hielt einen Säbel in den Händen, mit dem er fliehende Menschen erschlug. Überall war Blut. Dann wechselte das Bild und er schob einen gläsernen Sarg über einen Abgrund. Ramis wusste, dass sie darin lag.
"Du hast mich verraten, Mutter!" , brüllte er. "Wo warst du, als ich dich gebraucht habe? Ich hasse dich!"
Neben ihm stand Edward und hielt an den Haaren den Kopf seiner Mutter hoch. Lachend warf er ihn dem Sarg hinterher.
"Ich liebe dich bis zum Wahnsinn, Tante!"
"Das ist das Leben ", meinte Fayford.
Ein furchtbarer Schmerz ergriff Ramis.
"Es gibt nur einen Ausweg, du Verfluchte... Gib mir deine Seele! Opfere mir deinen Körper!"
Mit wildem Zucken wachte sie schweißgebadet auf. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass alles nur ein Traum gewesen war. Trotzdem war es mehr als ein Alptraum, den sie rasch beiseiteschieben konnte. Dieser Traum war eine Ausgeburt ihrer alles verzehrenden Schuldgefühle. Wo warst du, als ich dich gebraucht habe? Und noch etwas anderes machte ihr Angst. Hatte sie etwa zugelassen, dass Sir Edward zu einem Teil ihrer geworden war, mehr als sie es sich eingestanden hatte? Brachte sie deswegen das Verderben?
Ein einzelner Reiter galoppierte durch Nacht und Nebel. Man konnte seine Hand nicht vor Augen sehen. Als er sich London näherte, begegneten ihm immer mehr Menschen. Das edle, weiße Vollblut schwitzte und schnaufte von dem langen Ritt. Sein Herr verlangte dem Pferd stets einiges ab, denn er zog es vor, ohne Kutsche und lästige Anhängsel zu reisen. Sicher, es konnte gefährlich sein, ohne Begleitung durch die Gegend zu reiten, doch Lord Fayford fürchtete die feigen Gesellen nicht, die an einsamen Wegrändern Passanten auflauerten. Zwar unterschätzte er diese Gefahr sonst nicht und nahm deshalb ein paar Männer mit, doch heute trieb ihn die Ruhelosigkeit voran. Seit Henry St John alles zerstört hatte, war James ohne einen konkreten Plan durch die Welt gedriftet. Am Hof begegnete man ihm in Regierungskreisen mit einem derartigen Misstrauen, dass es unmöglich schien, dort jemals wieder Fuß fassen zu können. Die neuen Mächtigen im Parlament versuchten mit allen Mitteln, ihm jeglichen Einfluss zu entziehen. Sie hatten König George überzeugt, dass er gefährlich sei. Weil sie keine ausreichenden Beweise
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