Dunkle Häfen - Band 2
Schultern fiel. Darüber lag ein durchsichtiges Tuch, das locker um ihren Hals geschlungen war. Ramis zog einen Mundwinkel hoch und staunte über die Bewegung eines makellosen Mundes. Sie musste lachen, obwohl ihr gar nicht so zumute war.
"Ich bin ja wirklich erwachsen geworden!" , platzte sie heraus. "Das ist eine reife Frau!"
Die Zofe starrte sie verblüfft an. Ramis hörte erst auf, als sie in Atemnot geriet. Dann fuhr sie in ihrer Betrachtung fort. Ihr Körper sah durch das Korsett noch dünner aus. Aber wie würde es sein, wenn sie einmal Essen im Überfluss hatte? Ab der Taille bauschte sich der Rock weit auf und endete erst am Boden in einem Spitzenabsatz. Auch ihre weiten Ärmel, die am Ellenbogen endeten, waren mit Spitzen besetzt. Die Zofe schaute recht selbstzufrieden drein, auch wenn sie sich über die Engländerin wunderte. Schließlich berührte sie Ramis am Arm und versuchte, ihr etwas verständlich zu machen. Wieder hatte es etwas mit dem Marquis zu tun und Ramis vermutete, dass sie ihn holen wollte. Tatsächlich verließ die junge Frau auf Ramis Nicken hin das Zimmer. Ramis wagte sich während ihrer Abwesenheit nicht hinzusetzen - aus Angst, dass sie dabei das Kleid ruinierte und nicht mehr hochkam - und so stand sie ein wenig verloren herum. Unter all der Schminke und dem Glitzern konnte sie die Piratin nicht mehr finden, das alles schien plötzlich auch zeitlich weit weg.
Bald klopfte der Marquis an und kam beschwingt herein.
"Mon dieu!" , rief er bei ihrem Anblick theatralisch aus. "Quelle miracle! Ihr seht hinreißend aus!"
"Danke ", antwortete Ramis ein wenig abwehrend, aber eine eitle Ader in ihr fühlte sich doch wieder geschmeichelt, dass er sie trotz all dieser Schönheiten hier am Hof 'hinreißend' nannte.
Sie stellte fest, dass auch er festlich herausgeputzt war und erkundigte sich, ob es heute einen festlichen Anlass gebe.
"Oh ja ", nickte er. "Es gibt eine Theatervorstellung. Wenn man es nicht schon tausend Mal gesehen hätte, ist es bestimmt großartig. Ihr habt Glück, dass es heute Abend eine gibt. Dann kann ich Euch gleich dem König vorstellen. Es heißt, er fühle sich wieder besser in den letzten Tagen."
Anscheinend hatte er den König doch nicht sprechen können.
"Und wann beginnt diese Vorstellung?"
"Sofort, Madame. Wir können gleich hinübergehen."
" Jetzt? Ich kann doch kein Wort Französisch und habe keine Ahnung, wie man sich in Versailles benimmt!"
"Aber, aber. Es wird sich schon nicht so vom englischen Zeremoniell unterscheiden, auch wenn ich zugeben muss, dass es viel strenger und steifer geworden ist in den letzten Jahren. Aber ich werde Euch helfen. Ihr könnt ja kaum etwas falsch machen."
Ramis konnte seine Zuversicht nicht teilen, wie denn auch? Sie hatte ja noch weniger Ahnung, als er vermutete. Zögernd legte sie ihren Unterarm auf den dargebotenen Arm. Sie selbst würde ihre Fehler und Patzer nicht einmal bemerken, dafür alle anderen. Sie würden nach ein paar Augenblicken sehen, dass sie 'keine Manieren' hatte.
Zu ihrer Überraschung fand das Theater im Garten statt, man hatte hier eine große Bühne aufgebaut, ebenso mehrere Zelte, um eine Rückzugsmöglichkeit zu bieten. Es war zu dunkel, um allzu viel von der Umgebung sehen zu können. Aber überall diese opulente Pracht! Was sie von der Bühne sehen konnte, war unglaublich. Das Stimmengemurmel beunruhigte Ramis und rief ein Echo tief in ihrem Magen wach. Prächtig gewandete Damen und Herren schwirrten umher wie bunte Paradiesvögel und standen in Grüppchen zusammen oder auch alleine. Leicht diffuses Licht vermittelte eine unwirkliche Atmosphäre.
"Und, wie findet Ihr es?" , flüsterte der Marquis ihr zu.
"Es ist..." Ramis suchte nach einem passenden Wort. "Nun ja, überwältigend."
Ihr fiel nichts Besseres ein. Blicklos starrte sie auf die wogende Menge, während der Marquis anscheinend auf irgendetwas wartete.
"Nun werden wir mal sehen, ob wir den König noch sprechen können. Ich hoffe, er ist hal bwegs guter Laune. Wisst Ihr", tuschelte er ihr geheimnisvoll zu. "Er ist nicht mehr in bester Verfassung. Ihr werdet ihn von Krankheit und Alter gezeichnet vorfinden. Aber lasst niemandem gegenüber etwas über das verlauten, was ich Euch sage..."
Das bestätigte Ramis in ihrer Vermutung, dass König Louis‘ Kritiker sich noch immer vorsehen mussten. Aber sie bezweifelte, dass sie die Einzige war, der der Marquis das alles im Überschwang der Jugend erzählt hatte. Er glaubte sich im
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