Dunkle Häfen - Band 2
Tod schuld sein. Noch eine Schuld verträgt mein Seelenheil nicht. Aber Freude wird mir das Leben nie wieder machen. Der Verlust wird von nun an mein stärkstes Gefühl sein."
Gut ein Jahr war seitdem vergangen. Ramis hatte sich körperlich bald von ihrer Schwäche erholt, doch sie konnte nicht mit dem Trauern aufhören. Selbst wenn sie lachte, klang es hohl und jede Ausgelassenheit trug den bitteren Geschmack der Schwermut. Sie hatte sich verändert. Mehr als zuvor zog sie sich in sich zurück und bekam auch nicht mehr ihre Wutanfälle. Es wagte ohnehin kaum jemand, sie zu reizen, sobald er das unheimliche Flackern in ihren Augen sah.
Später erfuhr Ramis weitere Einzelheiten über Edwards Tod, die ihr unsägliche Pein bereiteten. Anscheinend hatte er mit seiner Mannschaft die Nacht über gefeiert, obwohl er wusste, dass zwei englische Schiffe unterwegs waren, um ihn zu töten. Ramis hatte nicht gewusst, dass Edward nach seinem Weggang zu einem der berühmtesten und gefürchtetsten Piraten geworden war. Er war eine Legende geworden, wie er sich das schon erträumt hatte, als sie noch im Goldenen Drachen gewohnt hatten. Aber das, was Ramis von ihm hörte, schien einen Fremden zu beschreiben. Sie konnte nicht glauben, dass er derart bösartig geworden war und eine kleine Hoffnung regte sich, es könnte sich bei Blackbeard um einen anderen gehandelt haben. Doch dann gab es auch Dinge, die sie so sehr an Edward erinnerten, dass sich jede Hoffnung wieder zerschlug. Warum war er nur so geworden? Hatte ihre Liebe denn nicht gereicht?
An diesem Unglückstag war Edward nicht geflohen, welcher Teufel ihn auch immer geritten hatte. Die Piratenmannschaft - stockbesoffen - kämpfte wild, aber sie hatten keine Chance gehabt. Man erzählte sich, Blackbeard habe auch nach mehreren Treffern weitergekämpft, doch am Ende konnte selbst er seinem Schicksal nicht entkommen. Die Sieger trennten seinen Kopf ab und hängten ihn als Trophäe an ihren Mast. Kochender Hass schäumte ihn Ramis, als sie das hörte. Bis sie die Gelegenheit hatte, ihn zu rächen, würde sie jeden Abend für den Tod dieser Leute beten. Eine Zeit lang traf sie wirklich Vorbereitungen, um sich auf den Weg in die Karibik zu machen, etwas, das sie längst hätte tun sollen. Wie es allerdings der Zufall wollte, warf ein Fieber das ganze Haus darnieder und um Charlotte stand es so schlecht, dass man dachte, sie würde sterben. Viele Kinder des frühen 18. Jahrhunderts überlebten ihre Kindheit gar nicht, was ihre Eltern damit ausglichen, dass sie einen ganzen Haufen Kinder zeugten. Weil das Leben so zerbrechlich war, hingen die meisten erst gar nicht an ihren Kindern. Überhaupt hatten die meisten Mütter kaum eine Beziehung zu den Kleinen, sie überließen sie guten Gewissens einer Amme. Ramis konnte sie nicht verstehen, denn sie liebte nichts mehr als ihre Kinder. Und durch ihre Liebe hatte sie sie auch wohlbehalten durch die Kindheit gebracht, so glaubte Ramis. Sie waren keine gesichtslosen Angehörigen einer ganzen Schar. In ihrer bedingungslosen Liebe konnte Ramis immer noch nichts anderes in Edward sehen als ihr 'kleines Kind'. Sie hatte den Leuten nie geglaubt, die dem wilden Jungen ein böses Ende prophezeiten. Im Grunde genommen warf Ramis sich Versagen vor und gab sich die Schuld.
Sie erzählte niemand em, dass sie von Sir Edward geträumt hatte, der zu ihr sagte: Nun hast du auch meinen Sohn getötet. Es war ein wirres Produkt ihres Hirns, das wusste sie, aber die Worte verfolgten sie ständig und drängten sich ungebeten auf. Alles erinnerte sie an Edward, obgleich hier nichts eine Verbindung zu ihm hatte. Ohne sich überzeugt zu haben, dass er tot war, fiel es schwer, dies zu akzeptieren. Es gab keinen Abschied zwischen ihnen, deshalb klammerte sich trotz allem ein Teil von ihr hartnäckig an die Vorstellung, dass er noch lebte. Manchmal erwartete sie, dass er einfach zur Tür hereinkam und sie für immer in die Arme schloss.
Es war alles nur ein fürchterlicher Albtraum, hätte sie sich dann sagen können. Doch es war eben kein Traum.
Ihren Racheplan hatte sie wohl oder übel verschieben müssen, selbst als Charlotte wieder gesund war. Bis dahin wollte sie in Erfahrung bringen, wer Edwards Mörder waren. Tief im Innersten wusste sie, wie absurd ihre Pläne waren. Sie konnte es aber nicht ertragen, dass es in den Augen der Welt als richtig galt, diesen Verbrecher auszuschalten. In Ramis Augen war er kein Verbrecher und alles andere war ihr egal.
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