Dunkle Häfen - Band 2
genauso wenig in die Welt der Toten wie du."
Seine Hand legte sich warum und tröstend auf ihren Arm.
"Ich bin schuld!" , rutschte es ihr heraus. "Mit meiner verdammten Angst habe ich ihn in die Welt und letztendlich in den Tod getrieben! Er hat mich mehr geliebt, als er ertragen konnte und ich habe die Augen davor verschlossen! Ich hätte mit ihm reden sollen, aber ich habe natürlich alles verdrängt! Darin bin ich ja gut: mich vor den Tatsachen verstecken. In der letzten Zeit ist mir etwas sehr klargeworden: Er ist gegangen, weil er mich so geliebt hat und mich nicht verletzen wollte. Und das nur wegen meinem elenden Wahn! Ich hasse diesen Irrsinn, hasse mich! Deshalb muss ich sterben. Mit dieser Schuld kann ich nicht leben!"
"Lass dir eines gesagt sein! Du hast ihn nicht umgebracht! Wie kannst du das nur glauben! Er hat eine freie Entscheidung getroffen, mit all ihren Konsequenzen. Jedes Kind muss sich irgendwann von seinen Eltern trennen und seinen eigenen Weg gehen."
Ramis schüttelte verzweifelt den Kopf.
"Wir waren untrennbar. Das Band, das uns hielt, ging sogar über das von Mutter und Kind hinaus. Es wurde in den Abgründen des Seins geschmiedet und ist unzerstörbar. Jetzt zieht es mich fort, ihm hinterher..."
"Mach dich nicht noch verrückter! Manchmal verlangt gerade die Liebe, dass man loslässt. Nicht du hast ihn vertrieben, auch wenn es so scheint. Irgendwann musste er gehen, sonst wäre alles schlimmer geworden. Du hättest ihn vom Leben ausschließen, seine Träume unterdrücken können, aber er wäre nicht glücklich geworden..."
"Glaubst du denn, er war glücklich?"
Sie fuhr sich über die Augen, die entzündet und klatschnass waren.
"Ich weiß es nicht einmal! Weiß nicht, wie er gestorben ist! Ich muss es von einem Fremden erfahren, der sich auch noch über seinen Tod freut!"
Sie heulte vor Schmerz und er zog ihren Kopf an sich, während er über das verfilzte Haar strich. Krampfhafte Schluchzer schüttelten den abgemagerten Körper. Sie war wie Land nach einer verheerenden Naturkatastrophe, verwüstet, doch der Marquis wusste nun, es würde irgendwann, in ferner Zukunft wieder neues Leben darauf entstehen.
"Seit fünf Jahren habe ich nicht gesehen! Und jetzt ist er tot, ohne dass seine Mutter neben ihm saß, als er starb!"
"Vielleicht war er bei seinem Tod bei dir. Oder es ging so schnell, dass er gar nichts mehr dachte. Er hat die Gefahr nicht gefürchtet und wenn man sich entschließt, Piratenkapitän zu werden, sollte man den Tod nicht fürchten, oder?"
"Jeder fürchtet den Tod, auch ein Piratenkapitän. Aber Edward scheute die Gefahr in der Tat nicht."
Sie krümmte sich wieder zusammen, als sie an ihre Zeit mit ihrem Jungen dachte und barg das Gesicht in den Händen.
"Er muss ein glücklicher Mann gewesen sein, denn er konnte sich deiner Liebe sicher sein."
All die guten und schlechten Tage an seiner Seite, was sie überhaupt erst erträglich machte. Es war eine unvergleichliche Zeit gewesen, eine nicht wiederkehrende. Es war Vergangenheit, das dämmerte ihr langsam. Aber auf gewisse Weise würde er immer in ihrem Herz weiterleben. Im Moment konnte sie noch nicht loslassen, aber vielleicht würde sie es irgendwann einmal tun und in Frieden auf ihre Zeit zurückschauen können. Doch bis dahin würde eine unsägliche Trauer ihre Tage verdüstern. Sie hatte nicht einmal ein Grab, das sie pflegen konnte. Er ruhte wohl im tiefen Ozean, tiefer als in jedem Friedhof. Ein Grab, das er mit Bess, Thomas und all den anderen teilte. Leider waren sie ihm keine Gesellschaft, denn er hatte sie nie gemocht. Aber keiner würde seine Ruhe dort unten stören.
"Wirst du nun wieder essen und trinken?" , holte sie der Marquis vorsichtig wieder zurück.
Sie nickte ergeben. Der Marquis stand auf und öffnete die Vorhänge.
"Du brauchst mal wieder ein bisschen Licht nach all der Dunkelheit, mein Mädchen."
Sie machte ein Geräusch, das fast wie ein bitteres Lachen klang.
"Die Dunkelheit wohnt in meinem Herz. Dort kann kein Licht hin."
"Weißt du, ma chère, auch wenn ich so gemein zu dir bin, ich verstehe, dass deine Trauer unbeschreiblich ist. Aber auch wenn es dumm und gefühllos klingt, das Leben geht weiter."
"Ich werde weiterleben, ja. Wie ich es so oft getan habe, als ich nicht mehr konnte. Dieses Mal wegen Charlotte, der ich geschworen habe, dass sie mich nicht entbehren muss und auch wegen William, selbst wenn er mich für tot hält. Wegen Euch ebenfalls, denn ich will nicht an Eurem
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