Dunkle Herzen
dieses demütigende Geständnis das kleinere Übel zu sein. Bloß nicht die Nacht im Auto verbringen!
Lisa stopfte die Schlüssel in die Tasche ihrer Jogginghose, griff nach ihrer Handtasche und machte sich auf den Weg.
So hatte sie sich den Verlauf des Abends ganz und gar nicht vorgestellt. Ihr hatte eher vorgeschwebt, zwölf Stunden früher als ausgemacht an Roys Tür zu klopfen, ihn vor Überraschung aus allen Wolken fallen zu sehen und dann mit ihm zusammen den Champagner zu trinken, den sie mitgebracht hatte.
Schließlich konnte sie ihm nicht jeden Tag eröffnen, daß man ihr die Hauptrolle der Dulcinea in Don Quijote angeboten hatte. Obwohl sie ein Mensch war, der leicht Freunde gewann und diese auch zu halten vermochte, gab es niemanden, dem sie die frohe Neuigkeit lieber erzählt hätte als ihrem Bruder.
Sie konnte sich schon vorstellen, wie er vor Freude strahlen würde, wenn sie es ihm sagte, und wie er sie packen und durch die Luft wirbeln würde. Ihre Mutter hatte sie zwar immer pflichtgetreu zu ihren Ballettstunden gefahren, aber es war Roy gewesen, der sie verstanden, ermutigt und an sie geglaubt hatte.
Im Gebüsch raschelte etwas. Lisa, ein Stadtkind durch und durch, zuckte zusammen, schrie leise auf und fluchte dann verhalten. Warum gab es hier bloß keine Straßenbeleuchtung, fragte sie sich, dankbar, daß sie wenigstens die Taschenlampe bei sich hatte.
Um sich selbst zu beruhigen, malte sie sich aus, um wieviel schlimmer ihre Situation noch sein könnte. Es könnte zum Beispiel regnen oder bitterkalt sein. Der klagende Schrei einer Eule veranlaßte sie, ihre Schritte etwas zu beschleunigen. Außerdem könnte sie noch von einer Bande irrer Triebtäter vergewaltigt werden. Oder sie hätte stolpern und sich ein Bein brechen können. Lisa erschauerte. Ein gebrochenes Bein war ungleich schlimmer als eine Horde irrer Triebtäter.
Nächste Woche würden die Proben beginnen. Träumerisch dachte sie daran, wie sie anmutig einen schwarzen Spitzenfächer schwenken und graziös über die Bühne wirbeln würde.
Sie sah die Lichter schon vor sich, hörte die Musik und spürte den Zauber der Bewegung. Nichts, aber auch wirklich nichts im Leben war ihr wichtiger als das Ballett. Sechzehn Jahre hatte sie gewartet, hart gearbeitet und um die Chance gebetet, sich als Solotänzerin beweisen zu können.
Und nun wurde ihr diese Chance gewährt. Innerlich jubelnd schlang sie die Arme um ihren Körper und drehte mitten auf der dunklen Straße drei Pirouetten. Jede Träne, jeder schmerzende Muskel, jeder Tropfen Schweiß hatte sich gelohnt.
Lisa lächelte in sich hinein, als sie das am Straßenrand abgestellte Auto entdeckte, das halb vom Gebüsch verborgen wurde. Ihr erster Gedanke galt ihrer möglichen Rettung. Vielleicht handelte es sich bei dem Fahrer um einen freundlichen, handwerklich geschickten Mann – im Grunde genommen haßte sie jegliche Form von Sexismus, aber jetzt war nicht der Augenblick, sich mit Haarspaltereien abzugeben –, der ihr Auto wieder in Ordnung bringen konnte.
Doch dann blieb sie am Straßenrand stehen und dachte nach. Warum war der Wagen halb im Gebüsch verborgen, so daß er von der Straße aus nur schlecht gesehen werden konnte? Unsicher ging sie ein paar Schritte auf das Fahrzeug zu, ehe sie rief: »Hallo? Ist da jemand?« Sie blickte noch einmal zur Straße, diesem endlosen finsteren Tunnel, ehe sie noch einen Schritt nach vorne wagte, wobei sie es sorgfältig vermied, in die Wasserrinne zu treten. »Hallo! Ich brauche Hilfe.« Den Lichtstrahl auf ihre Füße gerichtet, begann sie vorsichtig die Böschung herunterzuklettern, immer auf der Hut vor tückischen Fußangeln. »Ist hier jemand?« Ein leises Rascheln antwortete ihr, und Lisa schaute hoch. »Mein Auto …« begann sie, doch jedes weitere Wort blieb ihr vor Entsetzen in der Kehle stecken.
Aus dem Schatten der Bäume lösten sich zwei schwarzgewandete, gesichtslose Gestalten. Ein scharfer, instinktiver Strahl der Angst durchzuckte sie. Mit zitternden Händen richtete sie das Licht auf die unheimlichen Geschöpfe, ehe sie zurückwich und losrannte. Doch die beiden bewegten sich blitzschnell.
Als sich eine Hand in ihr Haar krallte und mit roher Gewalt daran zerrte, schrie sie vor Angst und Schmerz laut auf. Ein Arm legte sich um ihre Taille und zog sie hoch. Der Alptraum einer jeden Frau kam ihr in den Sinn und erfüllte sie mit sengender Furcht. Mit aller Kraft trat sie nach ihrem Angreifer, verfehlte ihn jedoch und
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