Dunkle Herzen
geschlafen oder sich einfach nur mit ihm unterhalten, bis der Schlaf sie übermannte.
Angie und Jean-Paul hätten dafür Verständnis gezeigt, dachte sie lächelnd. Aber ihre Mutter hatte ihr nur allzu erfolgreich gute Manieren eingebleut, und dazu gehörte, Gäste nicht zu lange sich selbst zu überlassen. Jetzt würde sie jedenfalls nach Hause fahren und sich in ihr Zimmer zurückziehen, um das Buch, das sie im Büro ihres Vaters gefunden hatte, genau zu studieren.
Es unter der Matratze zu verstecken war keine Lösung. Zu diesem Schluß war sie gleichfalls während ihrer Zeit mit Cam gekommen. Sie würde das Buch von vorne bis hinten lesen und versuchen, es zu verstehen. Sie würde sogar so weit gehen, die restlichen Bücher, die ihre Mutter fortgepackt hatte, durchzusehen.
»Wie gefällt Ihnen das, Dr. Janowski?« brummte sie vor sich hin. »Ich muß nicht unbedingt hundertfünfzig Dollar ausspucken, um herauszufinden, daß es das beste ist, nicht die Augen vor einem Problem zu verschließen, sondern sich damit auseinanderzusetzen.«
Außerdem, wo gab es denn Probleme? Clare warf übermütig den Kopf zurück, so daß der Wind ihr das Haar ins Gesicht wehte. Alles war in bester Ordnung. Emmitsboro würde seine Parade abhalten, man mußte ein paar Reden über sich ergehen lassen, und dann würde wieder der gewohnte Alltagstrott einkehren.
Plötzlich sah sie eine schemenhafte Gestalt wie aus dem Nichts aus dem Wald auftauchen. Ein Reh, dachte Clare, als sie mit aller Kraft auf die Bremse trat. Der Wagen schleuderte und drohte, seitlich auszubrechen. Sie riß das Lenkrad herum, der Lichtkegel der Scheinwerfer zuckte flackernd über die Straße und erfaßte kurz die Gestalt – eine Frau, erkannte Clare entsetzt – ehe der rechte Kotflügel sie traf.
»O Gott, o Gott!« Blitzschnell sprang Clare aus dem Auto. Die Beine gaben beinahe unter ihr nach. Ein beißender Geruch nach verbranntem Gummi stieg ihr in die Nase. Neben dem Wagen lag der verkrümmte Körper einer Frau. Ihre Jogginghose wies zahlreiche Blutflecke auf, und auch ihre Hände waren blutverschmiert. »Bitte, lieber Gott, mach, daß das nicht wahr ist«, murmelte Clare leise, ehe sie sich zu der Frau hinunterbeugte und mit zitternden Fingern sacht die Mähne blonden Haares zurückstrich.
Lisa blinzelte, konnte aber nur schattenhafte Umrisse erkennen. Auf ihrer kopflosen Flucht durch den Wald hatte sie irgend etwas böse am Auge verletzt. »Helfen Sie mir.« Ihre Stimme war nur ein heiseres Flüstern, fast unhörbar.
»Natürlich. Es tut mir ja so leid. Ich habe Sie erst gesehen, als es schon zu spät war.«
»Ein Auto.« Lisa raffte sich auf und stützte sich mit einer Hand und dem Ellbogen auf dem Asphalt ab. Jedes Wort brannte wie Säure in ihrer Kehle, doch sie mußte sich unbedingt verständlich machen, solange sie noch konnte. »Gott sei Dank. Bitte helfen Sie mir. Ich glaube nicht, daß ich aus eigener Kraft aufstehen kann.«
»Sie sollten sich besser nicht bewegen.« Wie war das doch gleich bei Hals- und Wirbelsäulenverletzungen? Warum hatte sie es bloß versäumt, einen Erste-Hilfe-Kurs mitzumachen?
»Sie kommen! Beeilen Sie sich, um Gottes willen!« Lisa zog sich bereits an der Stoßstange hoch. »Bitte! Schnell !«
»Schon gut, schon gut.« Sie konnte die hilflose Frau schließlich nicht gut auf der Straße liegenlassen, während sie Hilfe holte. So behutsam wie möglich bugsierte Clare Lisa auf den Beifahrersitz. »So, und jetzt noch …«
»Fahren Sie los!« Lisa fürchtete, das Bewußtsein zu verlieren. Mit einer Hand klammerte sie sich am Türgriff fest, während sie angsterfüllt in den Wald spähte. Ihr gesundes Auge füllte sich mit Panik. »Schnell, ehe sie uns finden.«
»Ich bringe Sie ins Krankenhaus.«
»Irgendwohin.« Lisa bedeckte ihr blutüberströmtes Gesicht mit beiden Händen. »Bringen Sie mich bloß hier weg.« Als Clare losfuhr, sank sie im Sitz zusammen und begann, am ganzen Leibe zu zittern. »O Gott, seine Augen. Wie der Teufel persönlich sah er aus.«
Cam hatte den Mund gerade voller Zahnpasta, als das Telefon klingelte. Er spuckte aus, fluchte halbherzig und machte sich nicht erst die Mühe, den Mund auszuspülen. Nach dem dritten Klingeln hob er den Hörer ab. »Hallo?«
»Cam!«
Es bedurfte nur dieser einen Silbe, um ihm klarzumachen, daß etwas nicht stimmte. »Clare, was ist geschehen?«
»Ich bin gerade im Krankenhaus. Ich …«
»Was ist passiert?« wollte er besorgt wissen und griff
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