Dunkle Herzen
zu sprechen. »Die Arterie ist in Mitleidenschaft gezogen worden – und dann ihr Knie. Sie ist Tänzerin.« Er blickte sich nach seiner Schwester um. Hilflose Wut zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Sie war Tänzerin.«
»Ich kann Ihnen versichern, daß sie so schnell wie möglich in Behandlung gekommen ist, und die hiesigen Chirurgen sind anerkannte Fachleute, die genauso qualifiziert sind wie ihre Kollegen in anderen Staaten.«
»Daran klammere ich mich.« Roy hielt einen Moment inne. Seit dem Anruf des Sheriffs diesen Morgen befürchtete er, er könnte zusammenklappen und dadurch Lisa mehr schaden als nützen. »Sie weiß noch nicht, daß sie … daß sie vielleicht nie wieder tanzen wird. Wenn sie erst einmal anfängt, darüber nachzudenken …«
»Ich werde es ihr so leicht machen wie irgend möglich.«
Roy ging zu seiner Schwester hinüber und ergriff ihre Hand. Als Lisa zu sprechen versuchte, kam nur ein heiseres Krächzen aus ihrer Kehle. »Sind Mom und Dad da?«
»Nein, noch nicht, aber sie werden bald kommen. Lisa, das hier ist der Sheriff. Er möchte dir einige Fragen stellen.«
»Ich weiß nicht.« Ihre Finger krampften sich um die seinen. »Laß mich nicht allein.«
»Ich gehe nirgendwohin. Du mußt auch jetzt nichts sagen, wenn du nicht willst.« Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. »Du mußt gar nichts tun, was du nicht willst.«
»Es kommt doch nicht mehr darauf an.« Lisa fühlte, wie unvergossene Tränen sie in der Kehle würgten, doch ihre Augen blieben trocken. »Es kommt nicht mehr darauf an«, wiederholte sie rauh flüsternd.
»Miss MacDonald.« Cam, der an der anderen Seite des Bettes stand, wartete geduldig, bis sie den Kopf gedreht und das gesunde Auge auf ihn gerichtet hatte. »Ich bin Sheriff Rafferty aus Emmitsboro. Wenn Sie glauben, daß Sie dazu in der Lage sind, möchte ich Sie bitten, mir ein paar Fragen zu beantworten. Die Stenografin wird alles festhalten. Wir können ganz langsam vorgehen und jederzeit eine Pause einlegen, wenn Sie das wünschen.«
In ihrem Bein tobte ein gnadenloser Schmerz, der im wilden Kampf mit den Medikamenten, die man ihr verabreicht hatte, lag. Einerseits fürchtete sie, dieser Schmerz würde nie vergehen, andererseits hatte sie Angst, auf einmal gar nichts mehr zu spüren. Roy befand sich im Irrtum: Lisa wußte bereits, daß sie niemals die Dulcinea tanzen würde. »In Ordnung.«
Cam warf Mrs. Lomax einen Blick zu. Diese nickte, die Finger bereits auf die Tasten legend. »Fangen wir doch einfach damit an, daß Sie mir erzählen, was passiert ist, soweit Sie sich daran erinnern.«
»Ich erinnere mich an gar nichts.« Lisas Hand, die noch immer in der ihres Bruders lag, begann zu zittern.
»Hatten Sie eine Autopanne?« bohrte Cam weiter.
»Ja. Ich bin von Philadelphia weggefahren, um Roy zu besuchen. Ich wollte …« Sie brachte es nicht fertig, das Ballett zu erwähnen, die Tatsache, daß beinahe alle ihre Träume wahr geworden wären. »Ich habe mich verfahren, bin irgendwo falsch abgebogen.« Sie schenkte Roy ein mattes Lächeln. »Manche Dinge ändern sich eben nie.«
Roy drückte nur ihre Hand, sagte aber nichts.
»Ich hab’ dann auf die Karte geschaut und festgestellt, daß ich nur ein paar Meilen von Emmits … Emmits …«
»Emmitsboro«, half Cam nach.
»Richtig, von Emmitsboro entfernt war. Ich dachte, es wäre das Gescheiteste loszugehen, vielleicht würde ich auf ein Haus stoßen. Ich ging der Straße nach …« Sie sah sich noch, wie sie mitten auf der Straße ihre Pirouetten drehte.
»Was geschah dann, Miss MacDonald?«
Lisa schüttelte den Kopf. Ein dunkler Vorhang war über ihr Gedächtnis gefallen, dünn zwar, aber undurchsichtig. »Ein Auto.« Sie schloß die Augen und schüttelte erneut den Kopf. »Ein Auto«, wiederholte sie, aber das nebelhafte Bild der Erinnerung entglitt ihr andauernd. »Eine Frau war da.« Lisa hörte plötzlich eine erschrockene, schwankende Stimme in ihrem Kopf, spürte sanfte Finger auf ihrem Gesicht. »Ich … sie mußte mir helfen.«
»Warum?«
»Ich hatte Angst.«
»Wovor?«
Wieder schüttelte Lisa den Kopf. »Ich weiß nur noch, daß ich furchtbare Angst hatte. Sie half mir ins Auto. Wir mußten uns beeilen, wir mußten weglaufen.«
»Wovor denn?«
Jetzt kamen ihr doch die Tränen. Das Salz brannte in dem verletzten Auge. »Ich weiß es nicht. War da wirklich eine Frau, oder habe ich mir das nur eingebildet?«
»Nein, die Frau war wirklich da.«
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