Dunkle Herzen
Es gab Zeiten, da mußte sich Cam ganz auf seinen Instinkt verlassen. »Dauert nur eine Minute«, sagte er, ehe er zur Tür ging. »Clare?«
Clare fuhr herum und lief auf ihn zu. »Kann ich jetzt endlich zu ihr?«
»Du mußt dich auf zwei Dinge gefaßt machen. Erstens ist sie in schlechter Verfassung, und zweitens wird alles, was in diesem Raum gesagt wird, zu Protokoll genommen.«
»Okay.«
»Du mußt nicht hineingehen.« Cam verstellte ihr immer
noch den Weg. »Vielleicht solltest du einen Anwalt anrufen, ehe du irgend etwas sagst.«
Clare warf ihm einen langen, forschenden Blick zu. »Ich brauche keinen Anwalt.« Ungeduldig drängelte sie sich an ihm vorbei, zögerte jedoch, als der Mann an Lisa MacDonalds Bett sich zu ihr umdrehte und sie finster ansah.
Roy MacDonald wußte von dem Moment an, wo er sie sah, Bescheid. Dies war die Frau, die seine Schwester angefahren hatte. Rasch sprang er auf und kam zur Tür.
»Was zum Teufel soll denn das? Ich will nicht, daß diese Frau in die Nähe meiner Schwester kommt.«
»Mr. MacDonald …«
»Raus mit ihr!« Er schnitt Cam mit einem feindseligen Blick das Wort ab. »Reicht es denn nicht, daß sie meine Schwester in dieses Bett gebracht hat?«
»Mr. MacDonald, Ihre Schwester war bereits schwer verletzt, als sie aus dem Wald gelaufen kam. Das war vor dem Unfall mit Miss Kimball. Wollen Sie denn nicht wissen, wieso?«
Roy zügelte sein Temperament. Sein Zorn bestand ohnehin zu drei Vierteln aus Angst. Er nickte grimmig, ehe er Clare ansah. »Sagen Sie ein Wort, nur ein Wort, das Lisa aufregt, und ich schmeiße Sie höchstpersönlich raus.«
Da Clare Cams Reaktion vorausahnte, legte sie ihm beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Schon gut.«
Sie hatte Lisa unbedingt sehen wollen, hatte fest darauf bestanden. Doch sie hatte nicht geahnt, was sie erwartete. Die Frau in dem Bett wirkte fast so weiß wie die Verbände an ihrem Kopf und ihrem Arm. Ein Auge war mit Gaze bedeckt, und ihr Bein hing in einer Art Stützgestell. Clare schluckte heftig.
»Lisa.« Mit zusammengepreßten Lippen hielt sie sich am Bettpfosten fest. »Ich bin Clare Kimball.«
Während sie die fremde Frau anstarrte, begann Lisa plötzlich, rascher zu atmen, bewegte sich unruhig und versuchte, sich höher aufzurichten. Sofort war ihr Bruder an ihrer Seite und schob ihr ein Stützkissen in den Rükken, wobei er beruhigend auf sie einsprach. »Keine
Angst, Kleines, niemand wird dir etwas tun. Sie geht jetzt wieder.«
»Nein.« Lisa tastete mit einer Hand über die Bettdecke und griff nach der von Clare. »Ich erinnere mich an Sie.«
»Es tut mir ja so leid.« Ein dicker Kloß saß in Clares Kehle, als sie eine hilflose Bewegung machte. »Ich weiß, daß ich nicht viel tun kann, um das, was Ihnen zugestoßen ist, wiedergutzumachen, aber Sie sollen wissen, daß Ihnen jeder Wunsch …«
»Damit werden sich unsere Anwälte befassen«, unterbrach sie Roy barsch. »Dies ist nicht der geeignete Zeitpunkt, um Ihr Gewissen zu erleichtern.«
»Nein, sicher nicht.« Clare nahm sich zusammen. »Lisa …«
»Ich erinnere mich an Sie«, wiederholte Lisa. »Sie haben mir das Leben gerettet.« Da ihre Hand zu flattern begann, klammerte sie sich an Clare fest. »Sie waren auf einmal da, mitten auf der Straße. Diese Männer wollten mich umbringen. Im Wald. Haben Sie sie gesehen?«
Clare schüttelte wortlos den Kopf.
»Wie sind Sie denn in den Wald geraten?« fragte Cam ruhig.
»Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich bin gerannt. Ach, und ich habe meine Lampe, meine Taschenlampe verloren.« Ihre Hand zuckte. »Ich habe ihn damit geschlagen und bin losgerannt. Ich dachte, sie würden mich vergewaltigen. Sie wollten mich vergewaltigen, und deshalb bin ich weggerannt. Es war so dunkel im Wald, ich konnte überhaupt nichts sehen. Er kam von hinten – ich bin gestürzt. Er lag über mir. O Gott, mein Bein! Mein Knie! Es hat so weh getan. Roy …«
»Ich bin hier, Kleines.«
»Es hat weh getan. Ich konnte Blut riechen. Mein Blut. Und ich sah seine Augen. Er wollte mich töten. Er hat gesungen, und er wollte mich töten. Er würgte mich, ich bekam keine Luft mehr. Ich dachte, ich müßte sterben. Aber ich konnte ihm entkommen. Da waren noch mehr von ihnen, sie kamen immer näher. Mein Bein hat so entsetzlich
weh getan. Ich wußte, ich würde nicht mehr lange laufen können, und sie würden mich dann finden. Da war ein Licht. Ich mußte unbedingt zu dem Licht gelangen. Irgend jemand
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