Dunkle Herzen
Ehre, ihr mit ein paar Gallonen Benzin aushelfen zu dürfen, angefleht hatten.
Natürlich hatte sich Clare anschließend verpflichtet gefühlt, mit ihnen eine Weile über Autos im allgemeinen und ihres im besonderen zu diskutieren, sie hinter dem Steuer sitzen und den schimmernden Lack streicheln zu lassen. Ob sich die Halbwüchsigen genauso hilfsbereit gezeigt hätten, wenn sie ein häßlicher alter Mann in einem schäbigen, verbeulten Ford gewesen wäre? Irgendwie zweifelte sie daran.
Jedenfalls hatte die normalerweise fünf Stunden dauernde Fahrt doppelt soviel Zeit in Anspruch genommen, und sie war fix und fertig. »Gleich haben wir’s geschafft, Baby«, flüsterte sie dem Auto zu. »Dann krabbele ich in meinen Schlafsack und bin erst mal acht Stunden tot für die Welt.«
Die Scheinwerfer des Toyota bildeten die einzigen Lichtquellen auf der stockfinsteren Landstraße. Da kein weiteres Fahrzeug in Sicht war, betätigte Clare das Fernlicht. Zu beiden Seiten der Straße lagen Felder. Auf dem Aluminiumdach einer Scheune spiegelte sich das Mondlicht wider, und sie konnte den Umriß eines Silos erkennen. Grillen und Frösche stimmten ihr nächtliches Konzert an. Clare lauschte eine Weile. Nachdem sie eine halbe Ewigkeit in New York verbracht hatte, kamen ihr die Geräusche einer Nacht auf dem Lande unheimlich vor.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, doch dann mußte sie über sich selbst lachen. ›Friedvoll‹ war wohl der zutreffendere Ausdruck. Trotzdem drehte sie das Radio ein wenig lauter.
Auf einmal sah sie das Schild, dasselbe alte Ortsschild, das, solange sie denken konnte, an der rechten Seite der zweispurigen Landstraße stand.
WILLKOMMEN IN EMMITSBORO
Gegründet 1782
Von freudiger Erregung erfüllt, bog sie links ab, rumpelte über die steinerne Brücke und folgte der sanft geschwungenen Straße, die in die Stadt führte.
Keine Straßenbeleuchtung, keine Neonreklame, keine Nachtschwärmer. Es war kaum Mitternacht, und doch lag
fast ganz Emmitsboro bereits in tiefem Schlaf. Im Licht ihrer Scheinwerfer huschten dunkle Gebäude vorbei – der Supermarkt, dessen riesige Glasschaufenster genauso leer waren wie der Parkplatz davor, Millers Eisenwarenhandlung mit frisch lackiertem Geschäftsschild und heruntergelassenen Jalousien. Auf der gegenüberliegenden Seite stand das große Backsteinhaus, das, als sie ein junges Mädchen war, in drei Wohneinheiten unterteilt worden war. Im obersten Stock brannte noch Licht, fahlgelb schimmerte es durch die Vorhänge.
Die meisten Häuser waren alt und lagen etwas abseits der Straße, die Vorgärten wurden von niedrigen Hecken umsäumt. Danach kam eine Ansammlung verschiedener kleiner Geschäfte, dann wieder Apartmenthäuser mit hölzernen oder steinernen Veranden und flatternden Markisen darüber.
Der Park. Fast meinte sie, den Geist des Kindes, das sie einst gewesen war, zu den leeren, im leichten Wind sachte hin- und herschwingenden Schaukeln rennen zu sehen.
Weitere Häuser, die meisten dunkel und still. Nur hinter wenigen Fenstern brannte noch Licht. Ab und an spiegelte sich ein Fernsehschirm flackernd im Glas. Autos parkten am Bordstein. Vermutlich unverschlossen, dachte Clare, genau wie die Mehrzahl der Haustüren nicht abgeschlossen sein würde.
Da war Martha’s Lokal, die Bank und das Büro des Sheriffs, vor dem Sheriff Parker immer gesessen, Camel geraucht und über Recht und Ordnung gewacht hatte. Ob er das wohl heute noch tat? fragte sie sich. Und ob Maude Poffenburger immer noch hinter dem Schalter des Postamtes saß und gleichzeitig mit Briefmarken auch gute Ratschläge verteilte? Spielten die alten Männer im Park immer noch Schach, und liefen die Kinder immer noch zu Abbot’s Gemischtwarenhandlung hinüber, um Eis am Stiel oder Milky Way zu kaufen?
Oder hatte sich alles geändert?
Würde sie morgen früh aufwachen, nur um festzustellen, daß nichts mehr so war wie früher? Clare verdrängte
diesen unerquicklichen Gedanken rasch und fuhr langsam weiter, wobei sie Erinnerungen in sich aufsog wie kühlen, klaren Wein.
Vorbei an gepflegten Vorgärten, in denen die Narzissen blühten und die Azaleen die ersten Knospen zeigten. Sie bog links in die Oak Leaf Lane ein. Hier gab es keine Geschäfte, sondern nur stille, friedliche Reihenhäuser. Gelegentlich klang Hundegebell durch die Nacht. An der Ecke Mountain View lenkte Clare den Wagen die leicht ansteigende Auffahrt hoch, deren Belag ihr Vater alle drei Jahre erneuert hatte.
Sie
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