Dunkle Herzen
Luftschlösser gebaut und sich ihren Kummer von der Seele geweint.
Wie hätte sie denn ahnen sollen, daß es so schmerzlich sein würde, die Tür zu öffnen und in einen verlassenen, leeren Raum zu blicken? Ihr war, als wäre alles, was sie je innerhalb dieser vier Wände getan hatte, auf immer ausgelöscht. Seufzend knipste sie das Licht aus, ließ jedoch die Tür offen.
Direkt gegenüber lag Blairs altes Zimmer, dessen Wände er mit Postern seiner Helden, von Supermann über Brooks Robinson bis hin zu John Lennon, geschmückt hatte. Daneben das Gästezimmer, das ihre Mutter mit Spitzendecken und Satinkissen ausgestattet hatte. Hier pflegte Granny, ihre Großmutter väterlicherseits, zu schlafen, wenn sie – wie jedes Jahr – eine Woche bei ihnen verbrachte, ehe sie einem Schlaganfall erlag.
Und hier war das Badezimmer mit dem hohen Waschbecken und den im Schachbrettmuster angeordneten grünen und weißen Bodenfliesen. Während ihrer gesamten
Jugend hatten sie und Blair um den Besitz dieses Raumes gekämpft wie zwei Hunde um einen saftigen Knochen.
Langsam ging Clare durch die Halle zurück in das große Schlafzimmer, in dem ihre Eltern Nacht für Nacht geredet, sich geliebt und geschlafen hatten. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie auf dem pink- und lavendelfarbenen Teppich gesessen und ihrer Mutter zugesehen hatte, sobald diese mit all den faszinierenden Fläschchen und Tiegeln auf ihrer Frisierkommode hantierte, wenn sie sich zurechtmachte. Wie oft hatte ihr Vater vor dem Spiegel mit seiner Krawatte gekämpft! Der Raum war immer vom Duft nach Old Spice und Glyzinien erfüllt gewesen. Fast meinte Clare, diesen vertrauten Duft auch jetzt noch wahrzunehmen.
Der Kummer trieb ihr die Tränen in die Augen. Halb blind stolperte sie ins Badezimmer, drehte den Hahn auf und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Vielleicht hätte sie sich mit der Rückeroberung des Hauses mehr Zeit lassen und sich nur einen Raum pro Tag vornehmen sollen. Die Hände auf das Waschbecken gestützt, blickte sie hoch und betrachtete sich im Spiegel.
Viel zu blaß, stellte sie fest. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, ihr Haar war ein einziger unordentlicher Wust. Was wiederum eher die Regel als die Ausnahme bildete, da sie zu faul war, um regelmäßig zum Friseur zu gehen, und statt dessen selber daran herumschnippelte. Irgendwo mußte sie einen Ohrring verloren haben. Oder sie hatte vergessen, ihn überhaupt erst anzustecken.
Sie war gerade im Begriff, sich das Gesicht mit dem Jakkenärmel abzutrocknen, als ihr einfiel, daß Wildlederjakken eine solche Zweckentfremdung übelnahmen. In ihrer Handtasche steckten Papiertaschentücher, doch die Tasche hatte sie während ihres Rundganges irgendwo abgestellt.
»So weit, so gut«, murmelte sie ihrem Spiegelbild zu und schrak zusammen, als ihre Stimme in dem leeren Haus widerhallte. »Genau hier wollte ich hin«, sagte sie in einem etwas bestimmteren Tonfall. »Hier gehöre ich hin. Ich fürchte nur, es wird schwerer, als ich dachte.«
Entschlossen wischte sie sich die Wassertropfen mit bloßen Händen aus dem Gesicht und wandte sich vom Spiegel ab. Jetzt würde sie hinuntergehen, ihren Schlafsack holen und sich erst einmal gründlich ausschlafen. Sie war erschöpft und daher überempfindlich. Und morgen früh würde sie noch einmal durch das Haus gehen und überprüfen, was sie besorgen mußte, um ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten.
Gerade als sie ins Schlafzimmer ihrer Eltern zurückging, hörte sie die Vordertür knarren.
Ihre erste Reaktion war blinde Panik. Ihre allzu lebhafte Fantasie gaukelte ihr Bilder einer Horde von Sträflingen vor, die gerade aus dem nur zwanzig Meilen entfernten Staatsgefängnis ausgebrochen waren. Und sie hielt sich mutterseelenallein in einem leerstehenden Haus auf! Zwar hatte sie zwei Jahre zuvor mit Angie zusammen einen Selbstverteidigungskurs besucht, doch alles, was sie dort gelernt hatte, schien wie weggeblasen.
Clare preßte beide Hände fest auf ihr Herz und mahnte sich zur Ruhe. Schließlich befand sie sich in Emmitsboro. Entsprungene Sträflinge pflegten für gewöhnlich nicht die Straßen kleiner ländlicher Gemeinden unsicher zu machen. Sie trat einen Schritt vor – und hörte die Stufen knarren.
O doch, dachte sie grimmig. Jeder, der einmal einen alten Hollywoodfilm gesehen hatte, wußte, daß Psychopathen und entflohene Sträflinge sich mit Vorliebe gottverlassene Nester aussuchten, um dort ihr Unwesen
Weitere Kostenlose Bücher