Dunkle Herzen
freinehmen willst, um bei deiner Mom zu bleiben, dann geht das schon in Ordnung. Bud und ich fahren dann eben doppelte Schicht.«
»Danke, das ist nett von euch. Aber ich glaube nicht, daß meine Mutter mich braucht.« Müde wandte sich Cam zu der Tür mit dem diskreten Messingklopfer.
Als er eintrat, erstickte er beinahe an dem überwältigenden Gladiolen- und Zitronengrasduft. In der stillen Eingangshalle mit den karminroten, kunstvoll drapierten Samtvorhängen herrschte eine kirchenähnliche Atmosphäre. Warum nur waren Bestattungsinstitute immer vornehmlich in Rot dekoriert, fragte sich Cam. Sollte diese Farbe tröstlich wirken?
Roter Plüsch, dunkle Paneele, dicke Teppiche und schwere Kerzenleuchter schmückten den Raum. In einer hohen Vase auf einem polierten Ecktisch stand ein Arrangement aus Gladiolen und Lilien. Daneben lag ein Stapel gedruckter Visitenkarten.
WENN DIE ZEIT KOMMT, SIND WIR FÜR SIE DA
Charles W. Griffith & Söhne
Emmitsboro, Maryland
Seit 1839
Werbung zahlt sich immer aus, dachte Cam ironisch.
Eine mit rotem Teppich ausgelegte Treppe führte in den zweiten Stock, zum Besichtigungsraum. Eine interessante Umschreibung für eine morbide Tradition, fand Cam. ›Leichenhalle‹ erschien ihm angemessener. Wie ein Mensch den Wunsch verspüren konnte, einen Toten anzustarren, konnte er nicht nachvollziehen. Aber vielleicht lag das daran, daß er in seinem Leben schon zu viele davon gesehen hatte.
Er erinnerte sich, wie er als Kind diese Stufen emporgestiegen war, um einen letzten Blick auf seinen Vater zu werfen. Seine Mutter war schluchzend vor ihm hergegangen, wobei Biff Stokeys fleischiger Arm um ihre Taille gelegen hatte. Der hatte keine Zeit verloren, dachte Cam nun. Mike Rafferty war noch nicht einmal unter der Erde gewesen, da hatte Stokey sich schon an seine Witwe herangemacht.
Nun war der Gerechtigkeit Genüge getan.
Cam schob die Hände entschlossen in die Hosentaschen und ging durch die Diele. Die Doppeltür, die zu besagtem Raum führte, war geschlossen. Er zögerte kurz, dann zog er eine Hand aus der Tasche, um vorsichtig anzuklopfen. Nach einigen Augenblicken wurde die Tür lautlos geöffnet.
Chuck Griffith stand, angetan mit einem seiner fünf schwarzen Anzüge, vor ihm und blickte ihn aus seinen melancholisch umflorten Augen an. Seit über hundertfünfzig Jahren war die Familie Griffith in Emmitsboro als Bestattungsunternehmer
tätig. Chucks Sohn wurde schon jetzt in diesem Metier ausgebildet, um später einmal das Familiengeschäft übernehmen zu können, doch im Moment dachte Chuck mit seinen vierzig Jahren noch lange nicht ans Abtreten.
Als Junge hatte er sich mitten unter einbalsamierten Leichen genauso zuhause gefühlt wie auf dem Baseballfeld, wo er als ausgezeichneter Pitcher galt. Die Familie Griffith betrachtete den Tod als ein einträgliches Geschäft. Chuck konnte es sich leisten, jedes Jahr mit seiner Familie für zwei Wochen zu verreisen und seiner Frau alle drei Jahre ein neues Auto zu kaufen.
Am Stadtrand besaßen sie ein wunderschönes Haus mit beheiztem Swimmingpool im Keller. Die Leute witzelten oft, daß der Tod diesen Pool finanziert habe.
In seiner Eigenschaft als Coach der Emmitsboro Little League gab sich Chuck laut und ungehobelt. In seiner Funktion als einziger Bestatter der Stadt schlug er leise Töne an und trat als mitfühlender, verständnisvoller Berater auf. Auch jetzt streckte er Cam freundlich seine große, kräftige Hand entgegen.
»Gut, daß Sie da sind, Sheriff.«
»Ist meine Mutter drinnen?«
»Ja.« Chuck blickte sich verstohlen um. »Ich versuche gerade, sie davon zu überzeugen, daß unter diesen Umständen ein geschlossener Sarg angebrachter wäre.«
Voller Unbehagen erinnerte sich Cam an das, was von Biff Stokeys Gesicht noch übriggeblieben war. »Ich werde mit ihr sprechen.«
»Kommen Sie doch bitte herein.« Chuck führte Cam in den schwach beleuchteten, blumengeschmückten Raum. Leise, beruhigende Musik strömte aus verborgenen Lautsprechern. »Wir sitzen gerade beim Tee. Ich hole Ihnen auch eine Tasse.«
Cam nickte und trat zu seiner Mutter. Sie saß so steif auf dem brokatbezogenen Sofa, als habe sie einen Besenstiel verschluckt. Eine Schachtel Papiertaschentücher stand in Reichweite. Sie trug ein schwarzes Kleid, welches Cam
noch nie an ihr gesehen hatte. Entweder hatte sie es sich geliehen, oder eine ihrer Freundinnen hatte es für sie gekauft. Mit einer Hand hielt sie eine Teetasse so fest umklammert, daß
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