Dunkle Herzen
die Knöchel weiß hervortraten, und die Knie preßte sie mit aller Gewalt aneinander, so daß Cam unwillkürlich dachte, der Druck von Knochen gegen Knochen müsse ihr Schmerzen bereiten. Zu ihren Füßen stand ein kleiner, schäbiger Koffer mit zerbrochenem Griff.
»Mom.« Cam setzte sich neben sie und legte ihr nach kurzem Zögern vorsichtig die Hand auf die Schulter. Sie sah ihn nicht an.
»Bist du gekommen, um ihn noch einmal zu sehen?«
»Nein, ich bin gekommen, um dir zur Seite zu stehen.«
»Dazu besteht kein Anlaß.« Janes Stimme klang steinhart. »Ich habe schon einmal einen Ehemann begraben müssen.«
Cam zog die Hand fort und kämpfte gegen den Drang an, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. »Ich möchte dir gerne dabei helfen, alles zu regeln. Du bist im Moment bestimmt nicht in der Verfassung, sämtliche Entscheidungen zu treffen. Außerdem ist eine Beerdigung eine teure Angelegenheit. Ich werde alle anfallenden Kosten übernehmen.«
»Warum?« Janes Hand blieb völlig ruhig, als sie ihre Tasse zum Mund führte, an dem Tee nippte und die Tasse wieder abstellte. »Du hast ihn gehaßt.«
»Ich biete dir lediglich meine Hilfe an.«
»Biff würde auf deine Unterstützung keinen Wert legen.«
»Beherrscht er immer noch dein Leben?«
Janes Kopf fuhr herum, und in ihren von stundenlangem Weinen geröteten Augen funkelte nackte Wut. »Wag es nicht, so über ihn zu sprechen! Mein Mann zu Tode geprügelt worden. Man hat ihn einfach totgeschlagen«, flüsterte sie heiser. »Du vertrittst hier das Gesetz. Wenn du mir wirklich helfen willst, dann finde heraus, wer meinem Mann das angetan hat. Finde heraus, wer ihn umgebracht hat.«
Chuck, der eben zurückkam, räusperte sich leicht. »Mrs. Stokey, möchten Sie vielleicht …«
»Danke, ich will keinen Tee mehr.« Sie erhob sich und griff nach dem Köfferchen. »Ich brauche nichts mehr. Hier sind die Sachen, in denen er beerdigt werden soll. Und Sie werden mich jetzt zu meinem Mann bringen.«
»Mrs. Stokey, er ist noch nicht hergerichtet worden.«
»Ich habe zwanzig Jahre lang mit ihm zusammengelebt. Ich will ihn sehen, und zwar so, wie er ist.«
»Mom …«
Jane wirbelte zu ihrem Sohn herum. »Ich will dich jetzt nicht hier haben! Glaubst du wirklich, ich könnte es ertragen, dich an meiner Seite zu haben, wenn ich von ihm Abschied nehme, wo ich genau weiß, wie du über ihn denkst? Seit du zehn Jahre alt bist, hast du mich gezwungen, mich zwischen dir und ihm zu entscheiden. Ständig war ich zwischen euch hin- und hergerissen. Nun ist er tot, und ich wähle ihn!«
Das hast du schon immer getan, dachte Cam und ließ sie gehen.
Sobald sie den Raum verlassen hatte, setzte er sich wieder hin. Darauf zu warten, daß sie zurückkam, hielt er für sinnlos, doch er mußte sich einen Moment lang innerlich sammeln, ehe er sich den neugierigen Blicken der wartenden Menge wieder aussetzen konnte.
Auf dem Tisch entdeckte er eine Bibel, deren Ledereinband vom Griff unzähliger Hände weich und glattpoliert worden war. Ob seine Mutter darin wohl ein paar tröstliche Worte gefunden hatte?
»Cameron …«
Cam blickte hoch und sah den Bürgermeister in der Tür stehen. »Mr. Atherton.«
»Ich möchte Sie in dieser schweren Zeit ja nicht belästigen, aber meine Frau hat mich angerufen. Offenbar ist sie der Meinung, Ihre Mutter bräuchte Beistand.«
»Chuck ist bei ihr.«
»Ich verstehe.« Atherton machte Anstalten, den Raum zu verlassen, dann besann er sich. »Kann ich irgend etwas für Sie tun? Ich weiß, daß diese Worte für die meisten Menschen nichts als eine hohle Floskel bedeuten, aber …« Er
hob die mageren Schultern und sah aus, als ob er sich nicht allzu wohl in seiner Haut fühlte.
»Meine Mutter wäre bestimmt dankbar, wenn jemand sie nach Hause fährt, sobald sie hier fertig ist. Sie möchte aber nicht, daß ich das tue.«
»Ich übernehme das gerne. Cameron, jeder Mensch reagiert auf einen Schicksalsschlag verschieden.«
»Wahrscheinlich.« Cam stand auf. »Der Autopsiebericht liegt mir inzwischen vor. Morgen bringe ich Ihnen eine Kopie vorbei, dann kann ich Sie auch gleich über die Ergebnisse unserer Ermittlungen informieren.«
»Ach ja.« Atherton rang sich ein Lächeln ab. »Ich muß gestehen, daß ich mit derartigen Dingen nicht allzuviel Erfahrung habe.«
»Alles, was Sie zu tun haben, ist, ein paar Unterschriften zu leisten. Sagen Sie, Bürgermeister, wissen Sie, ob es an der Schule irgendwelche Jugendgangs gibt? So eine
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