Dunkle Herzen
einschalten wollte. Billy Joel dröhnte aus den Lautsprechern. Annie klatschte im Takt mit, so daß ihre Armbänder am Arm herauf- und herunterrutschten. »Das kenn’ ich!« Lauthals sang sie mit, während der Wind ihr graues Haar zerzauste.
Cam fuhr die Oak Leaf Lane hinunter. Als er am Kimball-Haus vorbeikam, nahm er automatisch Tempo weg, doch konnte er Clare nicht in der Garage entdecken.
Annie unterbrach ihren Gesang und verrenkte sich den Hals, um das Haus im Auge behalten zu können. »Ich hab’ Licht im Dachgeschoß gesehen.«
»Nein, Annie, im Dachgeschoß brannte kein Licht.«
»Vorher doch. Ich konnte nicht schlafen. Kann nachts nicht in den Wald gehen. Nachts ist der Wald schlecht. Ich bin in die Stadt gelaufen. Da oben war ein Licht unter dem Dach.« Annie runzelte die Stirn, da sich eine Erinnerung über die andere legte. Hatte da jemand geschrien? Nein, diesmal nicht. Diesmal hatte sie sich nicht im Gebüsch versteckt und Männer aus dem Haus rennen und eilig fortfahren sehen. Rennen und fortfahren. Der Rhythmus dieser Worte gefiel ihr, und sie begann, vor sich hinzusummen.
»Wann hast du da ein Licht gesehen, Annie?«
»Weiß nicht mehr.« Sie begann, mit dem Fensterheber zu spielen. »Vielleicht hat Mr. Kimball lange gearbeitet. Manchmal arbeitet er ganz lange. Aber er ist ja tot«, erinnerte sie sich, sehr mit sich zufrieden, da sie nichts verwechselt hatte. »Tot und begraben, also kann er nicht gearbeitet haben. Das Mädchen ist wieder da. Das Mädchen mit dem schönen roten Haar.«
»Clare?«
»Clare«, wiederholte Annie. »Schöne Haare.« Sie wickelte eine Strähne ihres eigenen grauen Haars um den Finger. »Clare ist nach New York gegangen, aber jetzt ist sie wieder da. Alice hat es mir erzählt. Vielleicht ist sie ins Dachgeschoß gegangen, um ihren Daddy zu suchen. Aber er ist nicht da.«
»Nein, das ist er nicht.«
»Ich hab’ oft nach meiner Mama gesucht.« Seufzend begann Annie, mit ihren Armbändern zu spielen, folgte mit dem Zeigefinger der Gravur auf einem silbernen Schmuckstück. »Ich laufe gerne. Ich laufe den ganzen lieben langen Tag herum. Ich finde Sachen. Schöne Sachen.« Sie hielt einen Arm hoch. »Sehen Sie?«
»Mmm-Hmm.« Doch Cam beschäftigte sich in Gedanken gerade mit Clare und sah das silberne Armband, auf dessen Plättchen Carly eingraviert war, gar nicht an.
Clare fühlte sich merkwürdig gehemmt, als sie um das gepflegte zweistöckige Haus der Cramptons herum zum Seiteneingang ging. Dem Patienteneingang, dachte sie säuerlich, dann seufzte sie tief. Schließlich konsultierte sie den Doc nicht, weil sie sich durchchecken lassen wollte oder weil sie unter Schnupfen litt. Sie wollte ihn lediglich aufsuchen, um ein weiteres Glied in der Kette, die zu ihrem Vater zurückführte, zu befestigen.
Trotzdem schlichen sich wieder Erinnerungen in ihr Gedächtnis, Bilder aus ihrer Kindheit, wo sie in dem nach Zitrone duftenden Wartezimmer des Docs gesessen hatte, die Bilder von Enten und Blumen an der Wand bewundert und in zerfledderten Mickymausheften geblättert hatte. Wie sie ins Behandlungszimmer gerufen und auf die Liege gesetzt wurde, wo sie den Mund aufmachen und »Ah« sagen mußte. Und jedesmal war sie mit einem Luftballon belohnt worden, ob sie nun geweint hatte oder nicht, wenn sie eine Spritze bekam.
Der Geruch frisch gemähten Grases, die offenbar gerade neu gestrichenen Fensterläden und der körperlose Gesang, der von irgendwo her an ihr Ohr drang, beruhigten sie etwas.
Sie fand Dr. Crampton über seine Maiglöckchen gebeugt. Gartenarbeit war das große Hobby, welches der Doc mit ihrem Vater geteilt hatte, ein Hobby, das die Freundschaft der beiden Männer gefestigt hatte, obwohl der Doc ein gutes Stück älter als Jack Kimball gewesen war.
»Hallo, Doc.«
Crampton richtete sich rasch auf und zuckte leicht zusammen, als er seine Gelenke knacken hörte. Sein rundes Gesicht hellte sich bei Clares Anblick auf. Sein weißes Haar schaute unter einem zerbeulten alten Hut hervor, ein Bild, welches Clare an Mark Twain denken ließ.
»Clare, ich hab’ mich schon gefragt, wann du mich mal besuchen kommst. Gestern bei Jane hatten wir ja nicht viel Zeit, um unsere Bekanntschaft aufzufrischen.«
»Alice hat mir erzählt, daß Sie sich manchmal innerhalb der Woche einen halben Tag freinehmen. Ich hatte gehofft,
Sie einmal dann zu erwischen, wenn Sie nicht beschäftigt sind.«
»Ich bin gerade dabei, meine kleinen Lieblinge zu gießen.«
»Ihre Blumen
Weitere Kostenlose Bücher