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Dunkle Materie

Dunkle Materie

Titel: Dunkle Materie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aner Shalev
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gar nicht daran denken, dass er vor nur einem Jahr meine ganze Welt war.
    Â 
    Jetzt erwarte ich wenigstens von ihm nichts, was er nicht geben kann. Und ich habe weder die Sicherheit noch die Angst, dass ich mit ihm das ganze Leben verbringe, ich erwartenicht, dass er meine Bedürfnisse befriedigt, weder die intellektuellen noch die anderen. Das macht es viel leichter. All meine Fragen an ihn kommen aus echtem Interesse, weil ich die Antwort wissen möchte, und nicht deshalb, weil die Antwort so oder so sein muss, nur weil er mein Freund ist. Erstaunlich, wie ich mich damals als Gedankenpolizei aufspielte, wie ich darauf bestand, zu allem, was er dachte, das letzte Wort zu haben (das heißt zu allem, was er denken »sollte«).
    Â 
    Meine Mutter: Hör auf, die Männer als Krücken für dein Leben zu benutzen.
    Das ist genau das, was ich die ganze Zeit zu tun versuche. Ich glaube nicht, dass das Verhältnis des Behinderten zu seinen Krücken Liebe genannt werden sollte.
    Aber wie schwer ist es doch, ohne Krücken zu gehen.
    Â 
    Erst jetzt verstehe ich, dass ich lernen muss, allein zu gehen. Und vielleicht fange ich erst jetzt, mit dir, eine wirkliche Liebe an? Sodass es vielleicht eher Glück als Pech ist, dass ich dich gerade jetzt kennengelernt habe? Verheiratet, auf einem anderen Kontinent, tausende von Kilometern von mir entfernt. Ich werde dich nie als Krücke benutzen können. Vielleicht ist es die Unmöglichkeit einer Symbiose zwischen uns, die zur Befriedigung unserer Bedürfnisse führt und unsere Beziehung echter macht?
    (Adam, ich habe jetzt eine meiner stärksten Minuten. In schwächeren Zeiten könnte ich dich genau aus diesem Grund verlassen. Oder ich könnte von dir Dinge verlangen, von denen ich nicht will, dass du sie tust.)
    Â 
    Heute Abend, als wir beim Schwimmen waren, sagte Sascha, dass er dir für zwei große Dinge in seinem Leben noch etwas schuldig sei.
    Wofür schuldest du ihm etwas, fragte ich.
    Erstens hat er mich von Tanja befreit.
    Wie meinst du das, fragte ich, sie hat doch noch Kontakt zu dir.
    Ich meine, dass er mich von ihrer Liebe befreit hat.
    Und das zweite?
    Er hat dich zu mir zurückgebracht.
    Â 
    Du lieber Gott, als ich im Dezember und Januar wegen ihm weinte, war es mehr darüber, dass ich mein Spielzeug verloren hatte, den Gegenstand, den ich der Welt zur Schau stellen konnte.
    Meine Mutter: Du weinst jetzt genau so, wie du als Kind geweint hast, wenn ich dir dein Spielzeug weggenommen habe, damit du schlafen gehst.
    Meine Mutter: Hör auf damit, deine Identität von den Männern zu beziehen, mit denen du zusammenlebst. (Sie hat behauptet, dass sich sogar meine Stimme veränderte, als ich mit ihnen zusammen war.)
    Â 
    Â 
    Freitag, 12. November, 23:55
    Â 
    Seltsam, aber um meinen Vater habe ich nie geweint. Ich erinnere mich an den Schwimmwettbewerb, ich war fünfzehn und machte in hundert Meter Kraulen bei der Meisterschaft von St. Petersburg den ersten Platz. Ich erinnere mich, dass er einen Abend vorher nach einem zweimonatigen Aufenthalt im All aus Kasachstan zurückkommen und mich zum Wettbewerb bringen sollte. Ich weiß noch, wie ich den ganzen Abend auf die Uhr schaute und nicht wagte, etwas zu sagen, und meine Mutter sagte auch nichts. Und ich weiß auch noch, wie schwer es mir fiel, am nächsten Tag aufzustehen, allein mitmeiner Mutter Kaffee zu trinken, allein mit meiner Mutter zum Wettbewerb zu gehen. Und wie meine Augen, als ich schon im Schwimmbecken war, die Gegend absuchten, ob er vielleicht gerade angekommen war und mir zuschaute. Und vielleicht war er dann stolz auf mich, darauf, wie ich in letzter Minute die Schwimmerin rechts von mir überholte, diejenige, der alle den Sieg prophezeit hatten, und wie ich halb ohnmächtig am Beckenrand anschlug.
    Â 
    Und dann, bei der Medaillenvergabe, suchten meine Augen weiter nach ihm. Ich hatte für ihn gewonnen, aber er war der Einzige, der mich nicht beklatschte. Und all die Wochen und Monate und Jahre danach, in denen meine Augen nach ihm suchten und noch immer suchen. In denen jedes unerwartete Klopfen an der Tür mein Herz zum Rasen bringt. In denen jeder TV -Bericht über Raumschiffe und Kosmonauten mich an den Bildschirm fesselt. Und die Dialoge, die ich mit ihm noch führe. Und die heimlichen Spaziergänge morgens um zwei am Ufer der Newa, im Alter von sechzehn und siebzehn, wenn meine Mutter schlief und sich

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