Dunkle Materie
schwul. Alexandra erklärte sich bereit, »ihn zu testen«, und zwei Tage später kam sie mit der Antwort zurück. Sie hatte Mut, sie hatte Humor, wir lachten sehr viel zusammen. Sie fing an, mir zu vertrauen.
Das Einzige, was sie nicht hatte, war ein Freund.
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Warum musste ich sie an ihrem einzigen schwachen Punkt verletzen? Ich erinnere mich genau an jene Party bei ihr. Ich erinnere mich, dass sie sie sogar von Samstag auf Sonntag verschob, weil ich am Samstag nicht kommen konnte. Ich erinneremich, wie sie mir Sascha vorstellte, von dem sie schon oft gesprochen hatte. Und ich erinnere mich, dass ich neugierig war, jemanden zu treffen, an dem Alexandra interessiert war, jemanden, der aus Sankt Petersburg gekommen war, wie ich, jemanden, der gerne schwamm, wie ich, den ich aber trotzdem nie getroffen hatte (er ist einige Jahre älter als ich). Ich erinnere mich an diese Party bei Alexandra, ich erinnere mich, wie ich mit Sascha trank, wie ich mit ihm tanzte, beides gleichzeitig, wie ich ihn beim Tanzen küsste, sogar ohne den Versuch, es zu verheimlichen, ich sah, wie Alexandra mich beobachtete, und machte trotzdem weiter.
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Ich weià nicht, warum ich das tat. Ebenso wenig wie ich weiÃ, warum ich vor Ilja davonlief und nach Israel auswanderte. Ich verstehe so vieles in meinem Leben nicht. Vielleicht überkommt mich jedes Mal, wenn ich an einer wichtigen Wegkreuzung ankomme, ein Schwindelgefühl. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mit dir zusammen bin? Vielleicht hattest du recht, als du sagtest, das hinge wohl damit zusammen, dass ich die meiste Zeit ohne Vater lebte, nur mit einer Mutter, die sich wie ein Kind benahm und mir keine Regeln mitgab. Aber diese Erklärungen sind sehr schematisch. Vielleicht gibt es ja auch Dinge, die man besser nicht versteht?
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Vielleicht geschah es, weil ich so gerne konkurriere. In der Schule war ich immer gut. Ich genoss die Komplimente. Immer musste ich das beste Zeugnis nach Hause bringen. Später, als sich herausstellte, dass ich auch eine gute Schwimmerin war, als man anfing, mich zu trainieren, als man mich auf ständiges Siegen dressierte, als man mich mit fünfzehn Jahren zur Schwimmmeisterin machte, wurde die Lust an der Konkurrenz Teil meiner Persönlichkeit. Es war schon zu spät für eine Veränderung.
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Vielleicht schmeichelte es mir, dass ich einer so wunderbaren Frau wie Alexandra den Mann wegnehmen konnte, den sie am liebsten mochte. Als würde ich noch einen Wettbewerb gewinnen. Vielleicht dachte ich auch gar nicht nach. Vielleicht war ich betrunken. Vielleicht dachte ich, es sei nur eine wilde Party und würde zu nichts führen.
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Wir sprachen nicht darüber. Einen Tag. Zwei Tage. Nach einer Woche zog sie ganz einfach in ein anderes Büro um. Der schöne Tisch am Fenster blieb ein paar Tage frei, bis jemand anderer daran saÃ. Wäre ich schnell genug gewesen, hätte ich ihn haben können. Sie hörte auf, sich mit mir zu treffen. Sie sagte, sie habe zu viel Arbeit. Jedes Mal, wenn es Zeit zum Mittagessen war, hatte sie plötzlich viel Arbeit. Und es wurde unmöglich, sich auÃerhalb des Campus zu treffen oder gemeinsam Wodka zu trinken. Sie war sehr stolz. Und ich hörte allmählich auf, sie zu bitten.
Ich hatte sie verloren.
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Wir trafen uns nur noch ein einziges Mal, nur wir beide. Natürlich sah ich sie im Physikgebäude, im Flur des Sekretariats, neben den Postfächern, im Kaffeeraum, in der Bibliothek, aber das kann man nicht als Treffen bezeichnen. Ein richtiges Treffen gab es nur noch ein Mal, im Café Moment in der GazastraÃe, aber ihre Zuneigung war verschwunden, auch der Respekt, den sie mir vielleicht gezollt hatte, wir konnten nicht mehr miteinander sprechen wie früher, es war, als hätten wir uns auf einmal nichts mehr zu sagen.
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Damals sagte ich, Alexandra, ich möchte dir etwas erzählen. Vielleicht sagte ich auch, Alexandra, ich muss dir unbedingt etwas erzählen, mein Herz ist schwer. Gott weiÃ, was ich sagte. Ich wollte ihr meine Schuldgefühle zuschieben, als könnemich eine Beichte reinigen. Als bekäme ich einen Freispruch, wenn ich nur die Wahrheit sagte.
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Und dann sagte ich, Alexandra, ich habe gestern Nacht mit Sascha geschlafen, ich will das vor dir nicht verheimlichen, ich möchte, dass du das weiÃt. Und sie sagte, mach dir keine Sorgen, Eva, es ist in Ordnung, ich hab damit kein
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