Dunkle Schwinge Bd. 2 - Der dunkle Pfad
Cle’eru klaffte ein immenser Graben. Das hatte sie begriffen, auch wenn sie es nicht verstehen konnte. Ihr war zudem klar geworden, dass Kwan und die Konsulin bestens über sie informiert waren – und wahrscheinlich waren sie nicht die Einzigen. Diese Erkenntnis bereitete ihr ein unbehagliches Gefühl, denn wer konnte ihnen so viel über sie verraten haben?
Als sie im nächsten Moment zum Kamin sah, hatte sie die Antwort. Eine vertraute Geste, eine ebenso vertraute Kopfhaltung – das war mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit. Zudem hatte Jackie schon vor langer Zeit aufgehört, an Zufälle zu glauben. Und es beantwortete zu viele Fragen, um ein Zufall zu sein.
Entschlossen stand sie auf, stellte ihr Glas auf den Tisch und schritt zielstrebig durch den Raum. Sie nahm kaum die Gesichter der anderen Gäste wahr, die ihr aus dem Weg gingen, als sie sich näherte. Die Person, auf die sie es abgesehen hatte, drehte sich zu ihr um, und gleichzeitig schienen alle anderen Anwesenden ihre Unterhaltungen einzustellen.
»Hallo, Dan«, sagte sie. Die Worte kamen ihr leichter als erwartet über die Lippen.
»Du siehst gut aus, Jay.« Der Kosename, den sie seit so vielen Jahren nicht mehr gehört hatte, traf sie so, als drücke auf einmal ein zentnerschweres Gewicht auf ihre Brust. Es gelang ihr, das Gefühl gleich wieder abzuschütteln.
»Du plauderst aus dem Nähkästchen, Dan.«
»Ich weiß nicht, was du damit sagen willst.«
»Hast du diesen schleimigen Ian Kwan auf mich angesetzt? Er erschien mir außergewöhnlich gut informiert. Selbst mit Kontakten zur Flotte – die er meiner Meinung nach nicht mal hat – muss er von jemandem speziell über mich informiert worden sein.«
»Jay, jetzt mach hier keine Szene.«
»Sag mir nicht, was ich tun soll und was nicht, Dan McReynolds.« Sie packte ihn am Ellbogen und dirigierte ihn fort vom Kamin und hin zu einem abgelegenen Alkoven. »Es ist Jahre her. Du bist deinen Weg gegangen, ich meinen, und das Universum ist verdammt groß. Plötzlich ist meine ganze Welt auf den Kopf gestellt, da tauchst du wie aus heiterem Himmel auf, und ich laufe dir über den Weg. Du willst irgendetwas. Was?«
»Warum sollte ich etwas wollen? Vielleicht bin ich ja hier, um dir einen Gefallen zu tun.«
»Du brauchst mir keinen Gefallen zu tun.«
»Jay … Jacqueline. Du musst mich auch nicht darum bitten, das hat bereits jemand für dich getan. Ich bin von Adrianople hergekommen, so wie du. Ich hörte« – nun senkte auch er verschwörerisch die Stimme –, »du willst die Linie überschreiten.«
»›Die Linie überschreitend«
»Das Imperium verlassen. An einen Ort, den die Navy Sargasso nennt.«
»Was weißt du über Sargasso?«
»Ich war dort. Viele von uns … Graumarkthändlern« – er lächelte sie auf eine vertraute Weise an – »treiben dort regelmäßig Handel. Ich habe … wie soll ich es formulieren … eine Landeerlaubnis.«
Jackie erwiderte nichts, doch im Geist rief sie: Th’an’ya!
Ich bin hier, se Jackie.
Ist er ein Diener von esGa’u? Können Sie das feststellen?
Ich glaube, das ist er nicht, se Jackie. Er ist, was und wer er zu sein scheint.
»Jay, alles in Ordnung mit dir?« Seine Stimme hallte nach, als dringe sie aus einem tiefen Brunnen an ihr Ohr. Dan klang besorgt, doch da war auch ein Anflug von Zuneigung zu hören. Er wollte nach ihr greifen, doch sie wich reflexartig vor ihm zurück, da sie nicht von ihm berührt werden wollte.
»Ich … mir geht es gut. Es könnte sein, dass ich zu viel getrunken habe«, gab sie vor.
»Vielleicht sollten wir von hier verschwinden und stattdessen an der frischen Luft spazieren gehen.«
»Ich interessiere mich nicht für irgendwelche romantischen …«
»Ich auch nicht. Es geht um etwas Geschäftliches, und das hier ist nicht der richtige Ort, um darüber zu reden, oder findest du das nicht?«
»Den Dienst habe ich vor vier Jahren quittiert. Ich verließ die Torrance, um das Kommando über die Horace zu übernehmen, aber nach ein paar Jahren hatte ich genug von der Navy. Im Imperium gibt es mehr als nur Galauniformen und Inspektionen. Hast du dir darüber schon mal Gedanken gemacht, Jay? Ich hatte genügend Kontakte geknüpft, um gut versorgt zu sein, als ich den Sprung wagte.«
Dan McReynolds lehnte sich gegen das Geländer einer kleinen Brücke, die einen Fluss überspannte. Sie gehörte zu einem künstlich angelegten Garten, der einen Teil von Hansie Sharpes kleinem Reich darstellte. Hoch über ihnen
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