Dunkle Schwinge Bd. 2 - Der dunkle Pfad
verfügt.«
In der Leere konnte Jackie ihren eigenen Körper wahrnehmen, der durch den soeben durchlebten Prozess sonderbar verändert worden war. Ihre gekrümmten Schultern spürten das Gewicht der deutlich hervortretenden Flügel. Ihre Hände waren jetzt Klauen mit vier Fingern und spitzen Krallen, ihr Gesicht lief in einem spitzen Schnabel aus … doch zugleich fühlte sie, dass nichts davon tatsächlich zu ihrem Körper gehörte. Sie war wie ein Fötus zusammengerollt, in einem dunklen Nichts, in dem sie darauf wartete, dass etwas geschah.
Sie ängstigte sich schrecklich. Durch die Verwandlung und das plötzliche Erscheinen von Ch’k’tes Partnerin war diese Angst nur weiter verstärkt und ihr umso deutlicher vor Augen geführt worden, dass sie keinerlei Kontrolle über diese Erfahrung besaß.
Sie war nicht in der Lage zu verstehen, was hier vor sich ging. Die Persönlichkeit mit Namen Th’an’ya hatte sie einfach verdrängt und ohne nachzudenken aus ihrem eigenen Körper geworfen …
Nein, dachte sie. Gleichzeitig nahm sie flüchtig etwas Wunderbares wahr, und sie erkannte, dass es immer noch ein ›Selbst‹ gab, das zu eigenen Gedanken fähig war.
Nein, sie hat mich nicht aus meinem Körper verdrängt. Der befindet sich immer noch in diesem Zelt auf dieser eisigen Ebene auf Cicero. Diese Th’an’ya ist eine Erinnerung, ein Konstrukt, wie Ch’k’te es ausgedrückt hatte – sie ist in seinem Geist genauso körperlos wie ich.
Er hat seinen Geist mit meinem aus einem bestimmten Grund verbunden. Und er hat sie aus einem bestimmten Grund aus seiner Erinnerung hervorgeholt. Der Grund ist die Notwendigkeit, mit se Sergei Kontakt aufzunehmen und herauszufinden, was mit ihm geschehen ist.
Jackie öffnete die Augen und sah die graue, eintönige Ebene, die sie bereits vom ›Zelt‹ aus hatte erkennen können. Sie entdeckte ihren eigenen Körper, der dort schwebte und der sich mitten in der Verwandlung von einer menschlichen Frau zu einer weiblichen Zor befand.
Mit ihren menschlichen Fingern berührte sie ihre Klauenhand und spreizte den einzelnen Flügel.
Ich bin Th’an’ya ehn E’er’l’u na HeYen, dachte sie. Ich erlebte zum ersten Mal den Inneren Frieden am fünfundzwanzigsten Tag des Monats der Hellen Sonne, in L’le E’erTu von Sharia’a.
Ich bin Jacqueline Laperriere , dachte sie. Ich wurde am 18. März 2359 in Stanleytown auf dem Nördlichen Kontinent von Dieron geboren.
Ich lebe, dachte Jackie/Th’an’ya. Ich lebe.
Ich erinnere mich.
Ich erinnere mich an die schönen hellen Tage auf den Hügeln von E’efl, als die Sonne auf das wehende Gras schien und der Wind die Wolken über den Himmel jagte und an die tiefen Wälder des Nördlichen Kontinents, an die verborgenen Rinnsale, die vor Leben strotzten, ich erinnere mich an die fröhlich dekorierten Flure von L'le, als bloße Krallenfüße von den Weichholzböden Besitz ergriffen, die gleich wieder ihre ursprüngliche Form annahmen, wenn wir vorübergegangen waren, an das Gefühl von heißem Sand zwischen unseren Zehen, an die Wellen, die ans Ufer schlugen und an den nächtlichen Donner in den Bergen!
Einiges davon sind nicht meine Erinnerungen, überlegte sie. Sie gehören Th’an’ya. Erinnere dich an deine eigene Vergangenheit, so schmerzhaft das auch sein mag.
Erinnere dich an Jackie Laperriere.
Wieder war da dieses eigenartige Gefühl, dass jedes Ereignis der Vergangenheit sie unweigerlich ein Stück näher an ihre Gegenwart herangebracht hatte, in der sie sich nun befand. Die Ereignisse hoben sich ab wie Bilder, die man in die Leere graviert hatte. Sie verhöhnten sie wegen der Entscheidungen, die sie getroffen hatte. Sie war jetzt allein, und sie konnte nicht mal einen Schrei ausstoßen.
Erinnere dich, ermahnte sie sich. Akzeptiere deine Vergangenheit.
Langsam zogen sich die Krallen in ihre Finger zurück, ihre Schultern entspannten sich, als die Flügel schrumpften und nach und nach verschwanden. Doch die Erinnerungen funkelten wie Sterne in der Dunkelheit …
Es gab immer die Sterne, die man betrachten und nach denen man streben konnte, zum Greifen nah und doch unerreichbar. Unsere Vorfahren besaßen nicht die Macht, um der Schwerkraft der Welt zu trotzen, und doch haben wir gelernt, durch die Tiefen des Alls zu reisen und zu ergründen, wie grenzenlos es ist.
Die Akademie befand sich in der Mondbasis, der ältesten von Menschen gebauten Einrichtung im All, errichtet im einundzwanzigsten Jahrhundert, vor dem
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