Dunkle Sehnsucht des Verlangens
Bislang war ihr Gesang immer völlig natürlich aus
ihr herausgeflossen, und sie selbst war von der geheimnisvollen Schönheit der
Klänge ebenso verblüfft gewesen wie das Publikum. Doch jetzt fiel es ihr
schwer, auch nur ein einziges Wort herauszubringen, denn in ihrem Innern
herrschte Chaos, das ihr die Kehle zuschnürte und ihr Tränen in die Augen
steigen ließ.
Wo war er? Lebte er noch? Ging
es ihm gut? Am liebsten wäre Desari schreiend von der Bühne geeilt und hätte
sich vor den neugierigen Blicken ihres Publikums und der Sorge ihrer Familie
versteckt. Plötzlich zweifelte sie daran, das Konzert überhaupt beenden zu
können.
Sing für mich, cara mia. Ich liebe den Klang deiner Stimme.
Es ist wie ein Wunder. Wenn du singst, erfüllst du mich mit Freude und Frieden
und entflammst gleichzeitig meine Sinne. Sing für mich.
Seine Stimme klang leise und rau
und wischte das Chaos in ihrem Innern fort, als hätte es nie existiert. Desari
fühlte sich wie befreit, und ihr klarer Gesang füllte den Konzertsaal und
drang in die Nacht hinaus, um ihn zu finden. Alle Empfindungen, die aufgestaute
Leidenschaft, die wilde Sehnsucht und die Jahrhunderte der Einsamkeit vereinten
sich in ihrem Lied. Sie war wie eine leuchtende Flamme, die die gesamte Bühne
erhellte. Niemand konnte ihr etwas anhaben - sie war nicht von dieser Welt.
Irgendwo dort draußen wartete
ihr Geliebter auf sie. Er beobachtete sie, ließ sie nicht aus den Augen. Auch
er sehnte sich nach ihr. Sie spürte die Wärme seiner Haut und den sehnsüchtigen
Blick, der auf ihr Gesicht gerichtet war. Zwar hatte er den Konzertsaal
verlassen, war jedoch zurückgekehrt, weil er sie sehen musste. Alles andere war
unwichtig geworden. Die Angst um ihn und ihre Familie war vergessen. Desari
dachte nur noch daran, dass er ihr zuhörte. Sie sang für ihn allein und legte
all ihre Sehnsucht und Leidenschaft in jeden einzelnen Ton. Das Feuer, das er
in ihr entfacht hatte, gab ihrer Musik einen völlig neuen Klang. Desari sang
von erotischen Träumen, Seidenlaken und Kerzenlicht.
Julian vermochte den Blick nicht
von ihr zu wenden. Sie war so schön, dass er beinahe zu atmen vergaß. Sie
sollte seine Gefährtin sein? Niemand, er am allerwenigsten, verdiente eine
solche Frau. Desaris Stimme drang in die Tiefen seiner dunklen Seele vor und
berührte das Gute in ihm, von dessen Existenz er keine Ahnung gehabt hatte.
Auf der ganzen Welt gab es
niemanden, der so sang wie sie. Ihre hypnotische, bezaubernde Stimme spann den
Zuhörer in einen seidenen Kokon aus Leidenschaft ein und hielt ihn dort fest.
Julians Körper reagierte auf wilde, urtümliche Weise. Er begehrte sie, wie er
noch nie in seinem Leben eine Frau begehrt hatte. Zwar konnte er das Ende des
Konzerts kaum erwarten, wünschte sich aber trotzdem, es würde ewig dauern.
Die Wände des Konzertsaals
schienen zu versinken, als Desari die Illusion eines dunklen, geheimnisvollen
Waldes heraufbeschwor, mit tosenden Wasserfällen, tiefen Seen und lodernden
Feuern. Er würde die erotischen Vorstellungen, die sie in ihm hervorrief, nie
vergessen. Sie schwamm auf ihn zu, die Arme weit ausgestreckt, um ihn zu
begrüßen.
Die Zuschauer sprangen von ihren
Sitzen auf und spendeten Desari donnernden Applaus. Die Kritiker würden
begeistert sein. Julian war unendlich stolz auf Desari, und doch missfiel ihm
ihr Auftritt. Dass sie so in der Öffentlichkeit stand, widersprach seinem
Beschützerinstinkt. Sie würde nur noch mehr unwillkommene Aufmerksamkeit auf
sich lenken. Julian wusste, was die Reporter schreiben würden. Desari war eine
Zauberin, die das Publikum in ihren Bann schlug.
Desari kam für eine Zugabe auf
die Bühne. Sie war müde, freute sich jedoch über ihren Erfolg. Doch diesmal
ging es nicht nur darum, dass sie bei ihrem Auftritt alles gegeben und ihr
Publikum an ihrer außergewöhnlichen Gabe hatte teilhaben lassen. Dort draußen
in der Dunkelheit wartete ein Mann auf sie. Er war ein Fremder für sie, und
doch schien er ihr bereits so vertraut zu sein. Es war Furcht einflößend und
aufregend zugleich. Als Desari sich verbeugte, schien ihr Körper vor
Lebendigkeit zu vibrieren. Am liebsten wäre sie sofort von der Bühne gelaufen,
um bei ihm zu sein.
Sie wollte ihm in die Augen
sehen. Diese wunderschönen, ungewöhnlichen Augen, die sie überallhin voller
Sehnsucht zu verfolgen schienen. Er sah nur sie allein. Desari winkte dem
Publikum zu, verließ schnell die Bühne und ging den Flur entlang zu
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