Dunkle Sehnsucht des Verlangens
überraschte ihn.
Immer wieder betrachtete Darius
den Mann, der am anderen Ende des Raumes scheinbar gelassen an der Wand lehnte.
Er war groß und sah gut aus. Eine Aura schier unerschöpflicher Macht umgab
ihn. Im Augenblick war sein seltsamer, golden schimmernder Blick fest auf
Desari gerichtet. Er schien ganz von ihrem Vortrag eingenommen zu sein. Aber
Darius ließ sich nicht täuschen. Dieser Mann war gefährlich. Mochte er auch
kein Untoter sein, war er doch zweifellos ein Jäger. Und Desari war seine
Beute. Ein Ausdruck der Unerbittlichkeit lag in seinen Zügen, und er schien
Desari bereits als seinen Besitz zu betrachten. Darius wusste, dieser Mann
würde ein Gegner sein, den er nicht unterschätzen durfte.
Julian ließ Desari nicht aus den
Augen. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Dort auf der Bühne
im Rampenlicht, inmitten von wabernden Nebelschwaden, wirkte sie mystisch, als
wäre sie nicht von dieser Welt. Sie schien einer erotischen Fantasie entstiegen
zu sein. Julian verhielt sich vollkommen still, verschmolz beinahe mit der Wand
hinter ihm, als hätte Desari alle seine Energie in sich aufgesogen.
Darius machte sich unsichtbar
und ging näher an den Fremden heran. Er bewegte sich mit der lautlosen Tücke
eines Leoparden und vertraute darauf, dass Desari nicht nur ihr sterbliches
Publikum, sondern auch den Fremden in ihren Bann gezogen hatte. Als er nur noch
vier Stuhlreihen von ihm entfernt war, ließ ihn ein leises, warnendes Knurren
innehalten. Darius wusste genau, dass niemand sonst das Geräusch gehört hatte.
Es galt ihm allein. Der Fremde hatte keinen Muskel bewegt oder den Blick von
der Bühne gewandt, doch seine ganze Aufmerksamkeit galt nun Darius.
Oben auf der Bühne übersprang
Desari plötzlich zwei Zeilen ihres Textes. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Oh nein, bitte nicht. Nackte Furcht sprach aus ihrer
Stimme. Sie fürchtete um das Leben beider Männer.
Bewusst wandte sich Julian zu
Darius um und lächelte. Er streckte sich, ließ seine Muskeln spielen und legte
zwei Finger an die Stirn, als spöttischen Gruß an Darius. Dann ging er ohne
Eile auf den Ausgang zu. Seine bernsteinbraunen Augen glitzerten
herausfordernd. Aber dann wandte er sich ein letztes Mal zu Desari um, und die
Sehnsucht in seinem Blick entfachte ein Feuer in ihr.
Für dich, cara mia. Seine Stimme war
ebenso durchdringend wie sein Blick.
Am liebsten wäre Desari ihm
nachgelaufen. Sie stand auf der Bühne und sang vor einem großen Publikum, war
jedoch nicht mit dem Herzen dabei. Dayan und Barack musterten sie. Desaris
merkwürdiges Verhalten verwunderte sie. In all den Jahrhunderten, in denen sie
zusammen aufgetreten waren, hatte Desari noch nie einen Einsatz verpasst oder
eine Textzeile ausgelassen.
Darius folgte dem Fremden aus
der Halle ins Freie. Doch der Mann war verschwunden, schien sich in Nebel oder
Nachtluft aufgelöst zu haben. Zwar spürte Darius seine Anwesenheit, wagte es
jedoch nicht, seine Schwester allein zu lassen, um den Fremden zu verfolgen.
Irgendetwas an diesem Mann ließ ihn zögern. Wenn er Desari ansah, lag nicht
allein Begehren in seinem Blick. Er wollte sie beschützen; er würde ihr nichts
antun, davon war Darius überzeugt. Außerdem wusste er, dass der Mann den
Konzertsaal nicht aus Furcht verlassen hatte. Er schien vor nichts Angst zu
haben - seine Haltung, sein gesamtes Wesen drückten ein Selbstvertrauen aus,
das nur einem langen Leben voller Leid und schwerer Schlachten und einem
enormen Wissen entspringen konnte.
Darius betrachtete den
Nachthimmel. Wer der Fremde auch sein mochte, er hatte den Saal auf Desaris
Wunsch verlassen, nicht um einem Kampf mit ihm zu entgehen. Seufzend wandte
sich Darius wieder dem Konzertsaal zu. Er konnte diese neue Sorge im Augenblick
wirklich nicht gebrauchen. Der Geheimbund der Vampirjäger, der es auf Desari
abgesehen hatte, verlangte seine gesamte Aufmerksamkeit. Es beunruhigte ihn,
dass der Fremde gerade an dem Tag aufgetaucht war, an dem man versucht hatte, Desari
zu töten. Schlimmer noch, Darius war bereits vor einiger Zeit zu der
Überzeugung gelangt, dass seine Schwester vom übelsten aller Feinde verfolgt
wurde - einem Untoten.
Desari sah, wie ihr Bruder in
die Halle zurückkehrte. Angstlich musterte sie ihn. Seine Züge waren so schön
und undurchdringlich wie immer. Auch konnte sie keine Verletzungen an ihm
entdeckten. Ganz gewiss hätte sie etwas gespürt, wenn die beiden Männer
miteinander erkämpft hätten.
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