Dunkle Sehnsucht
konzentrieren, das nicht von den drei Vampiren ausging, die zusammen mit mir auf der Veranda standen. Das hier war etwas anderes, es kam aus der Erde.
Ich schloss die Augen und versuchte, mir die geisterhaf-ten Lichtblitze vorzustellen, die ich gesehen hatte, als ich in New Orleans zum ersten Mal mit dem Jenseits in Verbindung getreten war. Etwas, das sich anfühlte wie Gänsehaut, breitete sich über meinen Körper aus. Ich war ganz ruhig, weil ich wusste , dass sie dicht bei mir waren. Kommt , dachte ich und schickte suchend die Macht aus, die durch meine Adern floss. Kommt .
Hinter mir gab Kira einen zischenden Laut von sich, während Bones mit ruhiger Stimme sagte: »Vier sind gerade aufgetaucht, Süße.« Ich hielt die Augen geschlossen und lä-
chelte, damit die Neuankömmlinge wussten, dass sie willkommen waren, während ich mich auf die Kraft konzentrierte, die in mir war. Um die Fähigkeiten, die ich von Vlad oder Mencheres in mich aufgenommen hatte, zu aktivieren, hatte ich Wut, Angst oder Schmerzen verspüren müssen, jetzt aber war alles anders. Ruhe, nicht Gefühlsaufruhr, rief die Geister aus ihren Gräbern.
»Wieder fünf«, verkündete Bones. Die Frage, die in seinem Tonfall mitschwang, beantwortete ich nicht laut. Nein, ich war noch nicht fertig. Da waren noch mehr, ganz in der Nähe. Ich konnte sie spüren.
Ein kalter Hauch durchdrang die laue Sommerluft. Nicht eisig, sondern angenehm wie ein frostiger Kuss auf fieber-heißer Stirn. Ich lud ihn ein, näher zu kommen, und er kam, eine Kühle, die sich mit angenehm schleppender Lethargie über mich senkte. Sie breitete sich in mir aus, wollte, dass ich mich ihr ergab. Ich kämpfte nicht dagegen an, überließ mich ihr einfach, damit sie mich ganz durchdringen konnte.
»Wieder acht«, erklang Bones' beinahe knurrende Stimme.
Ich hörte sie, reagierte aber auch diesmal nicht darauf. Ich ließ mich in die weiße Leere fallen, die bis in mein Innerstes vorgedrungen war. Je mehr ich mich von meiner Angst, meinem Kummer und meinem Stress löste, desto größer wurde diese innere Sphäre, ersetzte alle negativen Emotionen durch ein herrlich kühles Nichts. Was für eine Erleichterung es doch war, alle Last von mir abfallen zu lassen, damit die wohltuende Leere sie aufsog. Wie hatte ich all den Schmerz nur so lange ertragen können? Jetzt, da er fort war, fühlte ich mich, als wäre ich schwerelos.
Bones sagte wieder etwas, aber diesmal hörte ich es nicht.
Wellen des Seelenfriedens brachen über mich herein und hielten alles fern außer der kühlen, erholsamen Stille in meinem Innern. Das war Glücksseligkeit. Das war Freiheit.
Ich schwelgte in dem Gefühl, wollte, dass es nie endete.
Ein Faden drang in mein Bewusstsein und zog mich zu-rück. Bones' Stimme klang harsch vor Kummer. Sie vertrieb etwas von der wundervollen Leere, ersetzte sie durch Sorge. Es war so ruhig und friedlich, dort, wo ich war, aber ich wollte nicht, dass er so klang.
Wieder ertönte Bones' Stimme, drängender diesmal.
Sandsäcke aus Schmerz schienen sich über mir zu stapeln, mich aus dem schwebenden Gefühl befreiender Leere zu verdrängen. Sie bildeten einen Pfad, dem ich folgte, jeder Schritt ein Teil des Schmerzes, den ich eben hatte abfallen lassen, aber ich machte nicht kehrt. Bones stand am Ende dieses Pfades. Das war wichtiger als die Glücksseligkeit des Nichts, die hinter mir lag.
Plötzlich bestand Bones nicht mehr nur aus einer Stimme. Sein Gesicht war nur Zentimeter entfernt von mir. Die dunklen Brauen hatte er zusammengezogen, als er meinen Namen sagte, lauter, und mich mit starken Händen an den Schultern rüttelte.
»Ich bin ja da, kein Grund, so zu brüllen«, murrte ich.
Bones schloss kurz die Augen, bevor er weitersprach. »Du bist kreidebleich geworden und zusammengebrochen. Ich habe zehn Minuten deinen Namen gerufen, um dich wieder zu Bewusstsein zu bringen.«
»Oh.« Ich rieb mein Gesicht an seinem. »Tut mir leid.«
Ich spürte etwas Nasses, berührte meine Wange und be-sah mir dann die rosa glitzernden Tropfen auf meinen Fingern.
Tränen. »Ich habe geweint?« Seltsam. Ich konnte mich nicht entsinnen, traurig gewesen zu sein.
»Ja«, krächzte Bones. »Hast du. Und dabei immerzu ge-lächelt.«
Das klang irgendwie gruselig. »Hat es funktioniert?«
Mir fiel wieder ein, dass er sie vorhin gezählt hatte, aber ich wusste nicht, ob die Geister noch da waren. Ich lag auf dem Fußboden der Veranda, und Bones' Körper verdeckte mir die
Weitere Kostenlose Bücher