Dunkle Sehnsucht
zu beruhigen. Selbst in der Dunkelheit konnte ich die Gebäude am Ufer deutlich erkennen. Da und dort erspähte ich verschwommene Gestalten, Geister, die wie selbstver-ständlich durch die Mauern huschten und ihren gespens-tischen Geschäften nachgingen. New Orleans war eine richtige Spukhochburg, in der es mehr fühlende Geister gab als an jedem anderen Ort, an dem ich bisher gewesen war. Immerhin war auch Fabian von hier.
»Letzte Minute, Süße. Schluss mit der Trödelei«, drängte Bones unbarmherzig.
Bastard . Ich straffte die Schultern, atmete tief durch, um Mut zu fassen, und stürzte mich dann wie von einem Sprungbrett in die Tiefe. Die Zugluft trieb mir umgehend die Tränen in die Augen. Ich wusste zwar, dass mich das nicht umbringen würde, bekam aber trotzdem Panik, als nichts geschah und ich nur immer schneller auf den Fluss zustürz-te. Wie eine Irre begann ich mit den Armen zu rudern, als könnten mir auf wundersame Weise Flügel wachsen und mich himmelwärts tragen. Bones' Plan war schiefgegangen!
Ich flog nicht; ich fiel wie ein Stein. Gott, jeden Augenblick würde ich auf der Wasseroberfläche aufschlagen ...
Mein ganzer Körper machte sich auf den Aufprall gefasst, da spürte ich einen Luftzug, und der Abstand zwischen mir und dem Fluss vergrößerte sich. Einen Sekundenbruchteil lang dachte ich, Bones hätte im letzten Augenblick beschlossen, mich doch nicht ins Wasser stürzen zu lassen, und mich aufgefangen. Aber mir wurde schnell klar, dass keine starken Arme mich hielten. Nein, ich spürte nichts außer einer Art Luftkissen, als würde ich plötzlich von unsichtbaren Düsen emporgetragen. Ein Blick nach unten bewies, dass ich tatsächlich mehrere Meter über dem Fluss schwebte und mit jeder Sekunde höher stieg, unter mir nichts als dieser pulsierende Luftstrom.
Ein wildes Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus.
Heilige Scheiße, ich hatte es geschafft! Ich flog tatsächlich!
Meine Panik verwandelte sich umgehend in Stolz. Ich flog, und es war ein absolut erhebendes Gefühl. So viel besser als die Träume, die ich gelegentlich gehabt hatte, in denen ich ohne Einweisung oder Übung einfach so davonschwe-ben konnte. Auch die Luft fühlte sich noch immer ganz ver-
ändert an. Als hätte sie eine Form, die ich nach Lust und Laune gestalten konnte. Sie war kein leerer Raum mehr, sondern eine Projektionsfläche für meine Wünsche.
Ich sah mich nach Bones um, und so plötzlich, wie ich in die Luft gestiegen war, begann ich wieder zu fallen. Ich ru-derte abermals mit den Armen, aber nichts passierte. Dumpfe Resignation erfüllte mich, als ich sah, wie die Distanz zwischen mir und dem Fluss schrumpfte. Gott sei Dank hat Bones meine Lederjacke, war mein letzter Gedanke, bevor ich mit einem enormen Platschen im Wasser landete.
Der Aufprall traf mich wie ein Dampfhammer. Ich tauchte ein gutes Stück unter Wasser, und als ich wieder an die Oberfläche kam, spuckte ich aus, was mir in den Mund geraten war, als ich beim Aufprall versehentlich nach Luft geschnappt hatte. Bones' Gesicht war das Erste, was ich beim Auftauchen sah. Wie eine Erscheinung schwebte er ein Stück über mir und grinste mich an.
»Ich habe dir ja gesagt, dass deine Instinkte so weit geweckt würden, dass du fliegen kannst, wenn du von der Brü-
cke springst.«
Ich bedachte das Brackwasser um mich herum mit einem vielsagenden Blick. »Ja, aber ich bin trotzdem im Fluss gelandet, so gut hat es dann wohl doch nicht funktioniert.«
Sein Grinsen wurde breiter. »Ich habe nie behauptet, dass man nicht üben muss, wenn man oben bleiben will.«
Ich wollte ihn mir schnappen und zu mir ins Wasser rei-
ßen, aber er wich kichernd meinem Zugriff aus. Dann zog er mich an den Schultern aus dem Fluss. Ein perfekt kontrollierter Flug seinerseits - Angeber -, dann stand ich wieder auf der Brücke und tropfte das Metallgerüst mit meinen durchweichten Klamotten nass.
»Okay. Noch mal«, forderte Bones.
Ich sah auf den Fluss hinab und wieder ihn an, musste aber feststellen, dass er weit genug von mir entfernt war, um vor etwaigen weiteren Übergriffen meinerseits sicher zu sein. Heute Nacht noch, schwor ich mir im Stillen, lan-dest du mit mir im Fluss. Die Umstände hatten es vielleicht notwendig gemacht, mir das Fliegen auf diese extreme Art beizubringen, aber das Grinsen, das Bones im Gesicht stand, sagte mir, dass er Spaß daran hatte, mich auf der Suche nach meinen fliegerischen Instinkten in den Fluss klatschen zu
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