Dunkle Sehnsucht
Unter anderen Umständen hätte ich das für eine schlüpfrige Anspielung gehalten, aber mir war klar, dass er meinte, wir würden wo-möglich später noch um unser Leben kämpfen müssen, falls etwas schiefging. Ich wusste, für welche Aktivität ich mir meine Energie lieber aufgespart hätte, wenn ich in der Position gewesen wäre, selbst über mein Leben zu bestimmen, aber das war ich in letzter Zeit selten.
»Ich sage Marie Bescheid«, meinte Jacques von der anderen Straßenseite aus. Er zog sein Handy hervor und sprach so leise hinein, dass seine Worte vom Lärm des nahen French Quarters übertönt wurden. Das Jazzfestival würde an einem der nächsten Tage beginnen, aber dem Zustrom an Touristen nach zu urteilen, war die Stadt bereits in Feierlaune.
»Warum ist er überhaupt gekommen, wenn er dachte, wir würden nicht aufkreuzen?«, flüsterte ich Bones zu.
»Weil Marie nichts dem Zufall überlässt«, antwortete er genauso leise.
Das sah der berüchtigten Voodoo-Königin ähnlich. Äu-
ßerlich war sie zwar eine Kreuzung aus Mutter der Kom-panie und Angela Bassett, die je nach Stimmung matronen-haft oder skrupellos wirken konnte, aber Marie arbeitete stets äußerst genau. Und ich musste mich ausgerechnet unter den gleichen Vorzeichen mit ihr treffen wie schon einmal: um herauszufinden, ob sie ein Arschloch unterstützen würde, das es auf mich abgesehen hatte. Diesmal allerdings ging es längst nicht nur darum festzustellen, ob ich laut vampirischem Recht verheiratet war oder nicht. Diese Frage hatte ich äußerst souverän geklärt, indem ich meinem Exmann die Rübe weggeblasen hatte. Wenn ich das in ab-sehbarer Zeit bei Apollyon auch hinkriegte, war ich gewillt, Zusammenkünfte mit Marie in Zukunft als glückliches Vorzeichen zu sehen.
»Sie kommt in zwanzig Minuten«, verkündete Jacques, während er sich uns näherte. Bones stieß ein Schnauben aus.
»Nach der ganzen Mühe, die wir auf uns genommen haben, um sie sprechen zu können, will ich das doch schwer hoffen.«
Jacques sagte nichts darauf. Bei unserer letzten Begegnung war er auch nicht sehr gesprächig gewesen. Zwanzig Minuten später öffnete Jacques die Friedhofstore, und ich ging hindurch. Ich wusste zwar, wo wir hinmussten, war aber bereit, mich von ihm führen zu lassen. Der Ghul schickte sich an, das Tor hinter mir zu schließen, aber Bones' Hand schnellte vor und hielt ihn auf.
»Ich komme mit.«
Der Ghul krauste die Stirn. »Majestic sagt, sie empfängt erst die Gevatterin und dann dich.«
Bones lächelte, ein lässiges Verziehen des Mundes, das seine Züge noch umwerfender wirken ließ, nur sein Tonfall wollte so gar nicht zu seinem Playboy-Charme passen.
»Du musst mich missverstanden haben. Ich komme mit ihr, und wenn du versuchst, mich daran zu hindern, nehme ich deinen Kopf und dekoriere damit die Eisenspitze am Tor.«
Jacques war mindestens doppelt so breit wie Bones und genauso groß, sodass für einen Außenstehenden kaum ein Zweifel bestanden hätte, wer aus einem Kampf zwischen den beiden als Sieger hervorgehen würde. Aber der Ghul verfügte nicht über die Macht, die von Bones ausging, als der seine inneren Schilde senkte. Sie strömte aus ihm heraus, bis sie den ganzen Friedhof umfing, und die fühlenden Geister Bones ein wenig aufmerksamer betrachteten.
»Hier entlang«, meinte Jacques schließlich und drehte uns den Rücken zu.
Zwischen bröckelnden Grüften und renovierten Gräbern hindurch führte er uns zum Grabmal von Marie Laveau. Ich wusste, dass dieser Friedhof eine beliebte Touristenattraktion war, konnte mir aber nicht vorstellen, selbst einfach so zum Spaß herzukommen. Die Atmosphäre war erfüllt von der Restenergie der Geister, die mir das Gefühl vermittelte, mit jedem Schritt unsichtbare Spinnweben zu durchschrei-ten. Der Friedhof war zwar nicht groß, da aber New Orleans in der Vergangenheit extrem hohe Sterberaten und wenig Raum gehabt hatte, um die Toten zu beerdigen, waren in jeder Gruft Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte Bürger be-stattet worden - von denen einige uns beobachteten, als wir jetzt an ihnen vorbeikamen.
Auch die Atmosphäre hier war ganz anders als im French Quarter, wo man sich wie in einer Zeitkapsel vorkam. Dort, in den Straßen, die für Pferde, nicht für Autos gemacht waren, und auf den von Gaslaternen beleuchteten Gehwegen, empfand man es gar nicht als seltsam, wenn einem zwischen den lebenden Einwohnern der Stadt auch die eine oder andere transparente Gestalt in
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