Dunkle Spiegel
habt ihn gehört! Hicks - wo ist Hicks?”
“Keine Ahnung!”
“Her mit ihm - und wenn er gerade auf dem Klo sitzt! - Egal!”
“Rechtliche Abteilung? Welche gesetzlichen Bestimmungen sind zu beachten? Gibt es vielleicht schon Präzedenzfälle? Worauf können wir uns berufen?”
Ich spürte eine Woge der Erleichterung in mir aufsteigen. Ich öffnete die Augen. Ramirez stand neben mir, stützte mich leicht und lächelte. Als ich den Kopf hob, sah ich Chief Whealer in einer Ecke stehen, die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Blick war undurchsichtig, nicht einzuschätzen. War ich zu weit gegangen?
Doch dann nickte er deutlich mit dem Kopf, drehte sich um und verschwand.
*** 46 ***
Es war schon später Nachmittag, als ich noch immer gedankenverloren im Konferenzzimmer saß. Ich konnte den Blick einfach nicht von der Wand abwenden. All diese Fotos. All diese unschuldigen Frauen. Jede einzelne Fotografie empfand ich in diesem Augenblick als Anklage.
Sie klagten mich an!
Sie gaben mir die Schuld!
Siehst du es denn nicht, schienen sie mir sagen zu wollen. Siehst du denn nicht das fehlende Puzzleteil?
Wie viele Frauen mussten noch so fotografiert und an dieser Wand ihren Platz finden? Wie viele noch?
Nein! Ich wusste, dass jede einzelne von ihnen schon eine zu viel gewesen war. Irgendwie fühlte ich mich von Grund auf verantwortlich für alles, was geschehen war. Hätte ich sie wieder lebendig machen können - ich hätte es getan, koste es was es wolle. So aber saß ich unter diesen leise surrenden Neonröhren, betrachtete die Wand mit den stummen Anklagen, während unter meiner feuchten, linken Hand schon die Aufnahmen des nächsten Opfers lagen!
Ich fühlte mich leer. Ausgepowert. Erschöpft. Verzweifelt. Was konnten wir noch tun? Wo konnten wir ihn angreifen? Wie konnten wir dem Phantom ein Gesicht geben, auf das wir einprügeln konnten, bis die Wut über unsere Hilflosigkeit wenigstens ansatzweise verraucht war?
Ich atmete schwer und fühlte mich etwas zittrig. Hätte ich einen Spiegel gehabt, hätten mich bestimmt zwei glasige Augen zwischen recht eingefallenen Wangen und vielen Falten angestarrt.
Na und?
Sicher würde ich dann sehen, wie ich binnen Sekunden genauso altern würde, wie es bei Agent Newman den Anschein gehabt hatte.
Agent Newman …
Wie ernst die Situation war zeigte allein schon die Tatsache, dass ein FBI-Agent aus Angst um seine Tochter vor Ort auftauchte, um unsere Ermittlungen beobachten und vielleicht helfen zu können. Es war die Angst eines liebenden Vaters, die ich in seinen Augen funkeln gesehen hatte. Die Angst eines Vaters der mit Schrecken feststellen musste, dass seine junge Tochter genau in das Opferprofil eines Wahnsinnigen fiel, der seine Opfer darüber hinaus auch noch in einem unkontrollierbaren Medium wie dem Internet ausmachte.
Es war die Angst, die ihn antrieb, dass seine Tochter auch zu einer Fotografie an dieser Wand werden könnte!
All das wusste ich. All das spürte ich bis in die äußerste Haarwurzel. Und doch ergriff diese übermächtige Müdigkeit Besitz von mir. Immer häufiger verschwamm die Welt vor meinen Augen und mein Körper schien mir nicht mehr gehorchen zu wollen.
War das schon eine Art von Lethargie? Oder hatte ich eine unsichtbare Grenze zur Depression überschritten?
Mit viel Mühe rüttelte ich mich auf und erhob mich schwerfällig, nahm die Pinnadeln vom Tisch. Keine zwei Minuten später hatte die neue Anklage ihren Platz an der Wand. Ich schloss die Augen und ging aus dem Raum. Doch die Augen der Opfer verfolgten mich und klagten weiter.
Es war sinnlos!
Als ich auf dem Flur stand, bemerkte ich zum ersten Mal das heillose Chaos, das hier herrschte. Alle wuselten wie in einem Ameisenstaat herum. Offenbar hatte es sich jeder einzelne zur Aufgabe gemacht, meiner Anordnung nachzukommen.
Aber würde das am Ende wirklich etwas bringen? Im Nachhinein kam mir jetzt mein Benehmen sogar unüberlegt und kopflos vor. Auch wenn wir diese Chats wirklich schließen könnten - wie lange würde es dauern, bis er sich ein Opfer in einem anderen Chat suchen würde?
Es war nicht mehr als ein Atemzug, den wir uns verschaffen würden, weiter nichts!
Aber diese Männer taten, was ich ihnen eben noch im Rausch der Wut und Verzweiflung aufgetragen hatte. Und ich hatte offenbar die volle Rückendeckung des Chief.
Ich hatte ihn nicht über mein Vorhaben in Kenntnis gesetzt. Das bedeutete, dass ich bewusst die Befehlskette außer Kraft gesetzt oder
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