Dunkle Spiegel
ihren Milchzahn vorgeführt, fein säuberlich auf einem roten Tuch gebettet, damit das strahlende Weiß auch richtig zur Geltung kam. Ramirez hatte daraufhin feierlich die kleine Schachtel aus dem Schrank genommen, um die ein grünes Bändchen gewickelt war. Er hatte sie geöffnet und seine Kleine hatte den Zahn behutsam und vorsichtig vom Tuch hinein zu den anderen drei Zähnen gleiten lassen. Dann war sie quiekend wie ein Wirbelwind davon gerannt, während er die Schachtel wieder lächelnd zurückgelegt hatte.
Er sah sie an, betrachtete aus der Entfernung ihre kleine Gestalt und ihr dunkles, leicht gewelltes Haar. Sein Blick glitt über ihren zerbrechlichen Körper und er hörte ihr hell klingendes, unschuldiges Lachen. Plötzlich steckte ihm ein Kloß im Hals.
“Was ist mit dir? Alles in Ordnung?”
Er schüttelte den Gedanken rasch ab und sah seine Frau an.
“Ja, ich war nur kurz mit den Gedanken woanders.”
“Ich weiß.” sagte sie nur und nickte leicht. “Ich wollte dir schon lange etwas sagen. Komm, setz dich.”
Er war überhaupt nicht verwundert, dass sie manchmal mit ihm wie mit einem kleinen Jungen sprach, dem sie Ratschläge geben wollte. Es störte ihn überhaupt nicht, denn er wusste, dass dies ihre ganz eigene Art war, ihm ihre Liebe in ernsteren Momenten zu zeigen.
Sie sah kurz in die glimmende Holzkohle und sog den Duft des gebratenen Fleisches ein. Dann sah sie ihn an und erklärte: “Ich bin sehr stolz auf dich! Ich bin stolz auf dich und auf das, was du tust. Ich weiß, dass du deinen Beruf liebst. Aber ich weiß auch, dass du ihn nicht nur machst, weil du ihn liebst.” Sie hielt kurz inne. “Als du eben unsere Sammy angesehen hast, woran hast du da gedacht?”
“Ich … ich habe daran gedacht, wie schön das Leben mit euch allen ist. Mit dir, Michael - und natürlich unserem kleinen Wirbelwind. Ich weiß, dass sie deine Stärke hat. Die Jungs werden sich eines Tages an ihr die Zähne ausbeißen.” meinte er scherzhaft und sie mussten beide schmunzeln. “Aber,” fuhr er nachdenklich fort, “sie sieht auch so … zerbrechlich aus, so verletzlich. Sie ist noch nicht vorbereitet für diese Welt, in der wir heute leben. Eines Tages wird sie diese Welt auf ihre ganz eigene Weise kennenlernen, aber ich möchte das noch ein wenig von ihr fern halten.” Wieder machte er eine Pause und stocherte etwas verlegen in der Glut. “Ich dachte eben daran, was wohl wäre, wenn ihr etwas passieren würde. Wenn sie etwas älter wäre und ich erkennen müsste,dass sie diejenige sein könnte, die mit einem Irren chattet, der dann so verrückt wäre, sie zu besuchen. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass irgendjemand irgendwann ihre Unschuld besudeln und ihr Schmerzen zufügen könnte. Was wäre, wenn eines dieser Opfer meine Tochter wäre?” Er spürte, wie seine Stimme heiser wurde und leicht bebte.
Er hatte schon zu viel gesehen und erlebt. Er hatte dem Tod schon fest in die Augen geblickt, zu allem bereit. Aber wenn es um seine Familie ging, dann wurde er ganz zart und sanft. Er würde sich in jede Gefahr stürzen, um sie zu beschützen, das wusste er.
Eigentlich hatte er sich fest vorgenommen, dass er seinen Job nie zu sehr an sich herankommen lassen würde. Doch dieses Mal war das alles anders. Junge Frauen waren ermordet worden, die noch ihr Leben und die Erfüllung ihrer Träume vor sich gehabt hätten. Sie waren benutzt und getäuscht worden. Sie hatten etwas gesucht. Etwas, was sie gebraucht hatten oder was sie glücklich gemacht hätte - und hatten dafür sterben müssen.
Was, wenn eines der Opfer meine Tochter gewesen wäre? dachte er, wie schon einige Male zuvor in den letzten Tagen.
Ruth drückte seine Hand, herzhaft und fest.
“Das ist einer der Hauptgründe, warum du diesen Job machst! Du möchtest die Welt sicherer machen. Auch, oder besonders für unsere Kinder. Du wünschst dir, dass sie sicher aufwachsen und diese Welt nicht so schlimm erleben müssen, wie sie wirklich ist. Du liebst diesen Job, weil du der Richtige dafür bist! Du gehst mit soviel Herz an diese Sache heran - weniger mit nüchternem Verstand. Und immer dann, wenn du unsere Kinder siehst, ist das für dich der Antrieb, deinen Job noch besser zu machen. Damit sie eines Tages aus dem Haus gehen, die Welt kennen lernen und ihre Träume verwirklichen können. Dafür räumt Ricardo Ramirez auf! Und er macht das verdammt gut!”
Ramirez sah ihr in die Augen. Er spürte, wie sein Blick verschwommen wurde.
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